Familien mit behinderten Kindern
Es ist eine warme Atmosphäre, die meinen Begleiter Domkapitular Ulrich Beckwermert und mich sofort anspricht, als wir das Zentrum für Familien mit gesundheitlich eingeschränkten oder behinderten Kindern in der katholischen Kirchengemeinde in Orsk betreten und dies nicht nur, weil es draußen über 20 Grad Minus kalt ist. Die Schwestern Oxana und Beata empfangen uns zusammen mit ihren zwei Pädagoginnen und ihrer Musiklehrerin.
Die Zahl der Kinder, die mit gesundheitlichen Problemen und Einschränkungen zu kämpfen haben, nimmt immer mehr zu, schrieben uns die Schwestern vor zwei Jahren. In der Stadt Orsk gibt es nur wenige Stellen, die die Arbeit mit solchen Kindern unterstützen. Es gibt eine Gruppe für Kinder mit Down-Syndrom, aber das reicht nicht aus, um die vielen Fragen der Eltern zu beantworten. Leider gibt es keine genauen Zahlen über den Anteil entwicklungsverzögerter oder behinderter Kinder.
Im Oktober 2014 hat sich in der Kirchengemeinde in Orsk eine Gruppe betroffener Eltern zusammengefunden mit der Bitte um Hilfe. Es wurden Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt und freiwillige Helfer (u.a. die Ordensschwestern) haben mit der Arbeit begonnen. Die Mitarbeiter haben Schulungen besucht und sich über verschiedene Themen informiert: praktische Einheiten zur Organisation von Spielen, Kommunikationsmetholden, spezielle Literatur, Organisation eines Umfelds und Kommunikationsgewohnheiten für die Arbeit mit Autisten.
Seit September 2014 finden mit den Eltern, Kindern und Freiwilligen Gruppen- und Einzeltreffen statt. Die Resonanz der Treffen war so positiv, dass auch andere betroffene Familien davon erfuhren und mittlerweile gibt es auch Selbsthilfegruppen.
Seit März 2016 unterstützt eine "Kuh für Marx" dieses Projekt. Es hat die Erhöhung der Lebensqualität
gesundheitlich beeinträchtigter und behinderter Kinder und die Schaffung einer Lebensperspektive zum Ziel. Es fördert die Entwicklung verschiedener Fertigkeiten, wie Motorik, Benehmen, Sozialverhalten, nutzt die Ressourcen durch soziale Unterstützung der Familien und weitet die Erfahrung der Arbeit des Zentrums immer mehr aus, bildet das Personal und die Freiwilligen weiter und zieht Sozialarbeiter und andere Spezialisten zu Rate. Die Kinder kommen zu Gruppenunterricht und individuellen Treffen, zu Festen und Feiern zusammen. Es gibt ein Sommerlager und ein besonderes Eigenmerk gilt der Inklusion. Die Eltern haben die Möglichkeit, sich in Selbsthilfegruppen zu treffen, es werden thematische Veranstaltungen und individuelle Beratungen angeboten, außerdem gibt es Informationstreffen zu bestimmten Themen, es wird gefeiert und Feste organisiert. Die Mitarbeiter bilden sich fort, haben ein Freiwilligenteam aufgebaut, einen Tag der offenen Tür durchgeführt und organisieren Praktika für Studenten. Das Interesse von Seiten der Eltern ist so groß, dass sie auch einen eigenen Beitrag zum Projekt leisten, z.B. durch Geldspenden (ca. 1000 Rubel pro Monat, durch Lebensmittel und Schreibwaren). Die Kirchengemeinde stellt die Räumlichkeiten, die Möbel und die Ausstattung, die Ordensschwestern die Materialien für die Arbeit mit den Kindern und ihre Hilfe bei verschiedenen Veranstaltungen.
Nicht nur für Orsk ist dieses Zentrum etwas Besonderes - etwas Neues. Fast fünfzig Kinder und ihre Familien haben das Zentrum im letzten Jahr besucht. Neuerdings wird auch eine Beratung für die Familien angeboten, die weit entfernt wohnen und deshalb das Zentrum nicht besuchen können. Während der individuellen Treffen mit jedem Kind (1 - 2 Mal pro Woche) wird viel Zeit der Förderung von sozialen, fein- und grobmotorischen Fertigkeiten, Lebensverhaltens-, Selbstversorgungs- und Kommunikationsfertigkeiten (darunter auch alternative Kommunikation), dem Denken, dem Gedächtnis und der Ausdauer sowie der Sprachförderung gewidmet. Bei den Gruppentreffen (es gibt 4 Gruppen) wird der Schwerpunkt auf die Sozialisation, Kommunikation und Kooperation gelegt. Außerdem werden Kenntnisse über die Jahreszeiten und Monate gefestigt, Lebens- und Selbstversorgungsfertigkeiten, Sprachfertigkeiten, Rhythmus- und Musikgefühl, fein- und grobmotorische Fertigkeiten, kreative Begabungen, die Fertigkeit am Tisch und in der Gruppe zu arbeiten gefördert, Übungen der Motorik, des Artikulationsapparates gemacht.
Das ganze wird nach Montessori-Vorgaben durchgeführt. Neben der Gruppenarbeit mit den Kindern wird den Eltern und anderen Verwandten die Möglichkeit angeboten, das "Elternwohnzimmer" zu besuchen. Bei diesen Elterntreffen (in insgesamt 3 Gruppen) können die Eltern brennende Fragen besprechen und Erfahrungen miteinander teilen, sich in gemütlicher Atmosphäre austauschen, untereinander unterstützen. Es ist auch möglich, die Mitarbeitenden des Zentrums um methodische oder informelle Hilfe zu bitten, die nächsten geplanten Veranstaltungen zu besprechen und vorzubereiten, sich bei den Mitarbeitern sich über ihr Kind beraten zu lassen und an verschiedenen thematischen Veranstaltungen teilzunehmen.
Das Projekt hat positive Auswirkungen auf die Lebensqualität der Kinder und ihrer Familien. Dank der mit ihnen durchgeführten Arbeit machen alle Kinder erkennbare Fortschritte. Das gilt sowohl für die Kinder, die das Zentrum momentan besuchen, als auch für diejenigen, die die Hilfe nicht mehr benötigen, die nun in den Kindergarten oder zur Schule gehen.
Die Kinder werden größer und einige sind schon Jugendliche. Deshalb entsteht immer häufiger der Frage: Was nun? - Es wäre schön, wenn sie auf konkrete Beschäftigungen vorbereitet werden könnten. Zurzeit gibt es die Idee einer Näh- oder Holzwerkstatt für ältere Kinder/Jugendliche. Für so eine Werkstatt braucht es natürlich Nähmaschinen, eine Holzbearbeitungsmaschine und Zusatzausrüstung.
Die Krankheit der Kinder beeinflusst das ganze Familienleben. Familien mit behinderten Kindern ertragen oft solche Beschwerden des Lebens und lösen solche Probleme, von denen andere Familien gar keine Kenntnis haben. Es ist in Russland nicht selbstverständlich, sondern immer noch eher die Ausnahme, behinderte Kinder im eigenen häuslichen Umfeld aufzuziehen. Die Unterstützung seitens des Staates dafür entwickelt sich erst sehr langsam. Den Eltern ist es durch Eigeninitiative gelungen, dass der Staat den Zugang zur Ausbildung für behinderte Kinder unterstützt und hat Dank der Initiative und der Bemühungen der Eltern in Orsk ein Ressourcenzentrum mit dem Namen "Impuls" gegründet, wo zurzeit sechs Kinder die erste Klasse besuchen und sich mehrere Kinder für die Schule vorbereiten. Dies kann jedoch nur ein Anfang sein, denn die Nachfrage nach solchen Angeboten ist viel größer als das gerade begonnene Angebot.
Nachdem uns die Ordensschwestern durch die Einrichtung geführt haben, treffen wir uns im 1. Stock mit Vätern und einer Mutter zum Erfahrungsaustausch. Das Projekt hat es geschafft, Eltern ein Selbstbewusstsein einzuhauchen und Rückenwind für den familiären Alltag zu geben. Ist es in Russland meist üblich, dass die Mutter alleinerziehend ein behindertes Kind großziehen muss, so ist es bemerkenswert, dass in diesem Projekt die allermeisten Familien vollständig sind. So ist es ihnen möglich, die Kinder im häuslichen Kontext zu lassen und zu fördern und sie nicht in eines der vielen großen staatlichen Behindertenheime abgeben zu müssen. Wir fragen die Eltern, wie sie den Alltag bewältigen und wie sie auch ohne große staatliche Unterstützung über die Runden kommen. Alle loben die Möglichkeit, ihre Kinder hier in dieses Projekt zu bringen und spüren deutliche Entwicklungsverbesserungen bei ihren Kindern. Ein Vater erzählt, dass er gemeinsam mit seiner Ehefrau einen Online-Handel aufgebaut hat, der es ihnen finanziell ermöglicht, unabhängig zu sein. Der andere Vater berichtet, dass er im hohen Norden im Energiesektor arbeitet und durch die harte Arbeit immer einen Monat unterwegs und dann einen Monat zu Hause sein kann. Das sei zwar eine große Belastung für die Familiensituation, doch die Familie hat sich damit zurechtgefunden.