Erfahrungsbericht
"Bei uns in Russland glaubt man nicht, dass man Menschen mit Behinderung besondere Aufmerksamkeit schenken sollte", sagt Maria Ostrowskaja, Geschäftsführerin des Vereins Perspektivy aus St. Petersburg. "Mitleid gibt es schon, aber die vorherrschende Meinung ist, dass Menschen mit Behinderung keine Perspektiven haben und zu nichts Nutze sind. Da reicht es doch, wenn sie ein Minimum an Fürsorge bekommen. So denken bei uns noch die allermeisten." Der Verein Perspektivy unterstützt Menschen mit Behinderung, damit sie sich und ihre Fähigkeiten entwickeln können, um ihr Leben so gut wie möglich in die eigene Hand nehmen zu können. Ein hohes Ziel vor dem Hintergrund der vorhandenen Rahmenbedingungen.
"Es gibt nur ein Minimum an Fürsorge, weit draußen am Stadtrand, in riesigen Heimen mit Hunderten von Bewohnern", erzählt Ostrowskaja. "Vernachlässigt von der Gesellschaft, von ihren Familien verlassen. Die meisten Kinder haben ihre Eltern zuletzt gesehen, als sie ins Heim gebracht wurden. Hier in Pawlowsk vor den Toren St. Petersburgs beispielsweise, teilen sich 13 von ihnen eine Pflegerin."
Die Lage von Menschen mit Behinderung ist noch immer von sozialer Ausgrenzung, Diskriminierung und fehlender gesellschaftlicher Integration gekennzeichnet. Staatlicherseits scheint die Praxis aus den Zeiten der UdSSR noch immer Bestand zu haben: Isolation der Menschen mit Behinderung von der Gesellschaft und kaum Versuche, ihnen etwas beizubringen.
Aufgrund einer Anordnung des Gesundheitsministeriums der UdSSR von 1974 wurden die Eltern von den Ärzten dazu angeregt, behinderte Kinder mit geistigen, intellektuellen und psychischen Störungen in eine geschlossene Einrichtung (Heim) zu geben. "Wir haben ja lange gar nicht gewusst, wie Menschen mit Behinderungen sich überhaupt entwickeln können. Wir pferchen sie weiterhin in diese riesigen Heime, in diese Fabriken, das ist unmenschlich. Viele glauben immer noch, Menschen mit Behinderung haben nur biologische Bedürfnisse, das steht bis heute so in der russischen Fachliteratur", erklärt Ostrowskaja weiter. "Ich muss sie leider enttäuschen. Unsere Projekte sind absolute Ausnahmen. Wir erreichen damit nur eine kleine Minderheit. Die schwerbehinderten Heimkinder sehen ihr Leben lang keine Pädagogen. Niemand kümmert sich um die Persönlichkeit eines behinderten Kindes und um seine Entwicklung."
Eigene Erinnerungen kommen in mir hoch. So habe ich im November 2004 ein Kinderkrankenhaus in
Astrachan besucht. Dort auf der Säuglingsstation "leben" Säuglinge, die von ihren Müttern nach der Entbindung im Krankenhaus zurückgelassen werden. Dies geschieht oft, wenn es sich um ein Kind mit Behinderung handelt. Das ist nicht nur legal, sondern durchaus üblich. In der Vergangenheit haben nicht selten Ärzte den Eltern nach der Geburt geraten, ihr Kind in staatliche Obhut zu geben, wenn schwere Entwicklungsstörungen diagnostiziert wurden. So zitieren die Autoren Ulrike Preuß und Stanislaw Stroh in ihrem Artikel "Die Situation behinderter Kinder und die Entwicklung der Heilpädagogik in Russland" aus 2006 einen Arzt mit: "Bekommen sie ein anderes, gesundes Kind, und machen sie sich um dieses Baby keine Sorgen". Und Maria Ostrowskaja erklärt dazu: "Die Mütter werden von der Gesellschaft vollkommen alleine gelassen. Es muss ein Umdenken stattfinden, wir brauchen dringend Aufklärung. Noch immer werde ich von Menschen gefragt: Glauben Sie wirklich, dass solche Kinder leben sollten?"
Die Kinder blieben früher bis zu einem Jahr nach der Geburt in diesem Krankenhaus. In dieser Zeit erhoffte sich das Krankenhaus, dass sich fremde Familien dieser armen Geschöpfe annehmen, was leider viel zu selten geschah. So beschloss man, die Kinder nach einigen Wochen in ein Kinderheim zu geben.
Ein solches Heim habe ich vor vielen Jahren mit der Italienerin Alberta Declara, der Leiterin eines Familienhauses der Gemeinschaft Johannes des XXIII. In Elista, besucht. Es war ein riesiges Heim, etwa eine Autostunde von Astrachan entfernt. In meinem damaligen Tagebuchaufzeichnungen habe ich folgende Eindrücke festgehalten: "Über einen zugezogenen Vorhang betreten wir einen großen Raum mit 15 Betten. Je 3 Betten der Länge nach nebeneinander, ein schmaler Gang an der Seite, so auch 15 Kinder, die meisten im Kindergartenalter. Der vordere Teil des Zimmers, zur Türe hin, besitzt einen quadratischen größeren Holztisch mit zwei einfachen Stühlen davor. Unter dem Tisch kauern zwei der älteren Kinder. Abgemagert, in ein einfaches Schlafhemd gehüllt und eifrig, monoton vor sich hin wippend. Daneben einige Kinder, etwas kleiner, die sich um Alberta und Lea kuscheln und etwas Körperkontakt suchen. Ein größeres Mädchen sitzt im Rollstuhl und lächelt uns zu. Im hinteren Bereich liegt etwa die Hälfte der Kinder in ihren Bettchen, zum Teil schlafend, zum Teil monoton zur Decke starrend. Sie sind nicht in der Lage, ihre Betten zu verlassen. Zwei von ihnen haben eine so starke Körperbehinderung an Armen und Beinen und eine extreme Wirbelsäulenverkrümmung. Sie können nur liegen und warten, gefüttert und gesäubert zu werden. In der hintersten Reihe liegen drei Kinder, fast nackt auf dem Bett, ein Kind hat einen total aufgeblähten Bauch, wie ich es vorher noch nie gesehen habe. Es sieht so elend aus. Doch noch schlimmer und mir ins Gedächtnis gebrannt, sind die beiden anderen. Bis auf das Skelett abgemagert, tiefe Augenhöhlen, die dunklen großen Augen auf einen Punkt an der Decke gerichtet. Keine Reaktion, als ich mich nähere. Auch die vielen Fliegen auf dem kleinen Körper, im Gesicht nehmen von mir keine Notiz. Ein Geruch von Urin und Kot weht durchs Zimmer. Die Kinder sind sauber und bis auf die drei in der letzten Reihe einfach angezogen. Zwei Betreuungskräfte stehen pro Zimmer zur Verfügung, sagt Alberta."
So entsetzlich die heutige Situation auch weitgehend noch zu sein scheint, so vehement stemmen sich immer mehr Elterninitiativen und Nichtregierungsorganisationen(NGOs) gegen die Isolation von Menschen mit Behinderung. Alberta Declara, die mich damals in Astrachan begleitete, hat seit einigen Jahren in dem Gemeinschaftshaus in Elista eine kleine Werkstatt für Menschen mit körperlicher Behinderung eingerichtet.
Den zivilgesellschaftlichen Gruppen ist es zu verdanken, dass in der Gesellschaft langsam ein Wandel stattfindet, hin zu einem offeneren und respektvolleren Umgang mit Menschen mit Behinderung.