Zwischen Landidylle und Abstellgleis
Koschewnikowo ist ein ärmliches russisches Dorf mit etwa 300 Einwohnern, circa eine Autostunde von der zwischen Omsk und Novosibirsk gelegenen kleinen Stadt Barabinsk, Halte-bahnhof der Transsibirischen Eisenbahn, entfernt. Wer steigt schon aus, wenn er hier nicht lebt?
Wir machen ein Wochenende lang Zwischenstation in der kleinen katholischen Kirchengemeinde von Pfarrer Dietmar Seiffert. Wir fahren als erstes nach Kuybischew, dem Wohnort vom Pfarrer Dietmar. Später machen wir uns gemeinsam mit ihm auf den Weg nach Koschewnikowo.
Hier, wo Russland so trostlos und heruntergekommen ist, lebt und arbeitet Pfarrer Dietmar schon über 15 Jahre. Die nächsten katholischen Gemeinden in Omsk und Novosibirsk sind 350 Kilometer entfernt. Durch einen sibirischen Mitbruder erfuhr Pfarrer Dietmar vom Kuhprojekt. Er nahm Kontakt zur Russlandhilfe der Caritas Osnabrück auf. Und so war es bereits möglich, mit Hilfe von Kuhspenden über 30 bedürftige Familien mit einer Kuh in seinem Einzugsgebiet zu unterstützen. 22 Kühe gingen allein an das Dorf Koschewnikowo. Wir wollen den Ort kennenlernen.
Von seinem Pfarrhaus aus brechen wir zusammen mit Pfarrer Dietmar Richtung Koschewnikowo auf. Wir fahren eine Dreiviertelstunde auf der schnurgeraden Ferntrasse Richtung Norden. Links und rechts riesige Grasflächen, hier und da ein paar Bäume, ein kleiner Hain, ein kleines Feld, ab und zu eine Hütte oder ein Vorratsspeicher. Hin und wieder grast eine kleine Kuhherde am Rand. Manches Mal zeigt ein kleiner Wegweiser Dorfnamen abseits der Route. Dann ein nach links zeigendes Hinweisschild: Koschewnikowo 0,3 km. Wir biegen ab.
22 Kühe lindern Not in Koschewnikowo
Es scheint, als habe das Dorf nur eine Straße, links und rechts reihen sich die Häuser aus Stein oder Holz eins nach dem anderen auf. Das Dorf wirkt abgeschieden und zugleich beschaulich - wie ein Relikt aus alten Zeiten.
Schnurstracks steuern wir auf das Clubhaus des Dorfes zu. Dorfvorsteher Wladimir wartet schon mit seiner Frau und seiner Enkeltochter davor auf uns. Wir gehen gemeinsam hinein. Das Haus, das einmal kulturelles und gesellschaftliches Zentrum des Dorfes gewesen sein muss, macht einen heruntergekommenen Eindruck. Im rot ausgeschmückten Theatersaal erwarten uns etwas 30 Dorfbewohner. Es sind Familienmitglieder unserer Kuhfamilien. Der langgezogene Raum besitzt eine kleine Bühne, die mit einem Vorhang zugezogen ist. Der aufgerissene Dielenboden zieht sich längs durch den Raum. Auf der Zuschauerseite sitzen viele Alte, ein paar Schulkinder, zwei oder drei Ehepaare, Familien. Wladimir heißt uns im Namen der Bewohner herzlich willkommen und bedankt sich ausführlich für die Kuhspenden. Im Laufe des Gesprächs mit den Leuten zeigt sich, welch große Hilfe eine Kuh hier im Dorf ist.
Es wird klar, was es heißt, würdevoll im Dorf zu leben. Das bedeutet Verzicht auf Alkohol und mit Fleiß seinen Garten zu bewirtschaften, damit man aus eigenen Kräften überleben kann. Dann haben die Menschen vor Ort gerade genug, um sich einen ausreichenden Vorrat für den Winter in die Keller legen zu können. Wer zusätzlich eine Kuh besitzt, dem liefert sie Milch, Butter, Quark, Käse und andere Milchprodukte.
Wer hier im Dorf geboren ist und dieses Fleckchen Erde seine Heimat nennt, der muss willensstark sein, denn die Gefahr von Depression und Alkoholismus, von Lethargie und Resignation ist allerorts zu spüren.
Kampf gegen Trübsinn und Hoffnungslosigkeit
Es entwickelt sich ein nachdenkliches Gespräch, in dem klar wird, dass der Kampf gegen Trübsinn und Hoffnungslosigkeit jeden Tag aufs Neue gekämpft werden muss.
Ein kleines Mädchen sagt als Dank ein Gedicht auf und zwei weitere kleine Mädchen überreichen Pfarrer Dietmar und mir zwei große Gipsengel. Wir werden zu einem Gang durchs Dorf eingeladen und können Haus, Hof und Kühe der Leute besuchen. Unser ganzer Besuch erscheint mir wie ein Gang durch eine verrückte Welt zwischen Landidylle und Abstellgleis.
Koschewnikowo, eines von tausenden ärmlichen, russischen Dörfern mit vielen alten Leuten, ein paar Familien, die noch übrig geblieben sind, einer kleinen Dorfschule der Klassen 1 bis 4, mit derzeit insgesamt 11 Schülern, 2 Lehrern, einer Schuldirektorin. Es gibt 2 Geschäfte im Dorf, angeschrieben wird nicht mehr. Die Ladenbesitzer scheuen das Risiko des "Nicht-mehr- zurückzahlen-könnens", denn Arbeit gibt es so gut wie keine. Wenn, dann nur gelegentlich und schlecht bezahlt; beispielsweise eine Handvoll Arbeitsplätze im Sommer in der nur noch unzureichend arbeitenden Sowchose, mit einem Monatslohn von 3000 bis 4000 Rubel. Die Melkerinnen, die dort von Mai bis Oktober angestellt sind, haben seit 3 Monaten schon keinen Lohn mehr erhalten. Wäre der Lohn ausgezahlt, entspräche dies nach derzeitigem Rubelkurs etwa 50 Euro monatlich. Wir erfahren, dass die Mindestrente bei knapp 8.000 Rubel liegt, dies sind etwa 100 Euro.
Die jungen Leute, die noch die Kraft dafür besitzen, verlassen das Dorf, um irgendwo neu anzufangen. Zurück bleiben die Kraft- und Mutlosen, die Enttäuschten und die Alten. Sie sagen: "Wir sind von aller Welt vergessen, vor allem von unseren Politikern. Die Dörfer sind ihnen nichts wert. Alles, was sie kriegen können, nehmen sie sich. Sie stopfen damit ihre Taschen voll."
In diesen Worten spiegelt sich die große Hoffnungslosigkeit der Menschen wieder, die auf die Frage, was sie hält, mit der Gegenfrage antworten: "Wo sollen wir denn hin?". Ohne Energie und ohne Hoffnung, ohne Geld und ohne Visionen verbleiben sie perspektivlos im Dorf und müssen sehen, wie sie sich und ihre Lieben "über Wasser halten". Die Alten nehmen oft das "Zepter" in die Hand, bewirtschaften die Gärten, ernten Gemüse und Obst und helfen mit, die Kühe zu versorgen, die Pfarrer Dietmar für sie erbeten hat.
Es gab nur noch wenige Kühe im Dorf. Gemeinsam mit Wladimir hat sich Pfarrer Dietmar dafür
eingesetzt, dass alle Familien, die in der Lage sind, eine Kuh zu versorgen und sie dringend benötigen, diese erhalten haben. Herausgekommen sind 22 Kühe.
Eine Krankenschwester ist für die gesamte Region verantwortlich. Oft besitzt sie noch nicht einmal genug Verbandsmaterial und Creme, um einfache Wunden zu behandeln. Die medizinische Versorgung auf dem Land ist ein Dauerproblem in Russland und beschäftigt uns und unsere Partner vor Ort schon lange.
Das nächste Krankenhaus ist 40 Kilometer entfernt. Die Ärzte und Krankenschwestern arbeiten für minimalen Lohn unter schwierigen Bedingungen. Oft fehlt es an Utensilien, die für die medizinische Versorgung oder dringende Operationen gebraucht werden.
Zum Glück gibt es noch eine Busverbindung, denn das Dorf liegt nur 300 Meter von der Ferntrasse entfernt, die von Barabinsk nach Surgut führt und viel befahren ist.
Straßenlaternen gibt es keine, dafür hat jeder seinen eigenen Ofen. So ist man sehr häuslich, vor allem in der dunklen Jahreszeit, in der von Oktober bis April meistens Dauerfrost herrscht. Nur das Heizmaterial ist teuer, doch woher nehmen, wenn man kein oder kaum Einkommen hat. Das dörfliche Leben kommt kaum noch zustande, gemeinschaftliche Veranstaltungen gibt es schon lange nicht mehr.
Ein großes Problem ist die mangelnde Wasserversorgung im Dorf. Fließend Wasser haben die wenigsten. Um einen Wasseranschluss zu erhalten, müssen die zu verlegenden Rohre selber gezahlt werden. Doch das ist für die allermeisten unerschwinglich.
Kühe schenken Hoffnung
Die Bedeutung unseres Kuhprojekts ist in Koschewnikowo deutlich zu spüren. Viele Familien haben mit ihrer Kuh Hoffnung geschöpft, sich selber zu versorgen. Wir haben eine große Dankbarkeit wahrgenommen. Unser Besuch in Koschewnikowo, die Gastfreundschaft und Dankbarkeit der Bewohner haben uns angerührt. Wir konnten spüren, wie eine kleine Kuh-Herde trotz aller Nöte Hoffnung in dieses Dorf gebracht hat.