Brandwunden, abgefrorene Zehen und Finger, amputierte Beine
Obdachlos in Sibirien? - Das ist im Sommer mit seinen langen heißen Tagen und vor den vor Fruchtbarkeit überquellenden russischen Schrebergärten, den Datschen, vielleicht nicht so ein Problem. Waschen, notfalls trinken am und aus dem Fluss. Aber da gibt es ja auch noch den Winter. Der sibirische Winter hat es in sich - die Temperaturen fallen teilweise auf bis zu minus 40 Grad. Doch zunächst ein paar Fakten: Eine kleine Studie der Caritas Moskau von 2019 mit 500 Teilnehmenden zeigt folgende Struktur unter den Wohnungslosen:
89% waren Männer (75% von ihnen zwischen 45 bis 60 Jahre alt), 11% Frauen.
50% hatte einen mittleren Schulabschluss oder eine mittlere Berufsausbildung
50% sind auf der Straße gelandet, weil ihre Familie oder Betrüger sie um ihr Wohnrecht gebracht haben
ca. die Hälfte der Obdachlosen sind legale oder illegale Migranten
Im sowjetischen Russland sollten praktisch alle Werktätigen eine Wohnung haben, in der sie selbst und alle Personen ihrer Familie registriert sein mussten. Nach dem Ende der Sowjetunion gab es die Möglichkeit, die Wohnungen für kleines Geld zu erwerben, zu privatisieren. So wurde aus der Registrierung in der Wohnung ein Eigentumsrecht. Das Motto "wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen" nehmen sich viele Russen bis heute erfolgreich zu Herzen. Bei manchen dieser Geschichten bleibt einem fast das Herz stehen. Trostlosigkeit, persönliche Tiefschläge und Perspektivlosigkeit stecken oftmals hinter den Lebensgeschichten dieser Menschen.
Gründe für Obdachlosigkeit
Die meisten der Obdachlosen haben keine Registrierung, die für fast jede staatliche Hilfe unabdingbar ist. Sehr viele von ihnen haben oft mehrfache Gefängnisstrafen hinter sich. Die Bewährungshilfe besteht aus einem Zugticket in irgendeine Stadt, in der vielleicht ein Familienangehöriger zur Aufnahme bereit ist. Wer solchermaßen ohne Geld vor dem Gefängnistor steht, hat nur wenige Möglichkeiten, ohne strafbare Handlungen an Essen zu kommen. Das Mutter-Kind-Heim der Caritas in Tscheljabinsk ist genau aus diesem Grund entstanden: für die Aufnahme der mit ihren Kindern inhaftierten Mütter des Frauengefängnisses. Zudem werden Mütter oft obdachlos, weil sie vom Vater des Kindes in der Schwangerschaft aus der gemeinsamen Wohnung geworfen werden.
Eine weitere Gruppe ist die große Zahl derer, die nicht bei ihren Eltern, sondern in Kinderheimen und bei Pflegeeltern aufgewachsen sind. Ihnen steht, wenn sie 18 Jahre alt sind, eigentlich laut Gesetz eine Wohnung zu. Eigentlich. Die Strukturen der Heim- und Pflegeerziehung sind nach wie vor nicht geeignet, weltgewandte, gewiefte Menschen zu entlassen, die dem Bürokratiedschungel gewachsen wären. Obdachlosigkeit ist oftmals die Folge.
Leid und Elend auf der Straße
Wenn ich an meine Begegnungen mit Obdachlosen denke, dann fällt mir als erstes 20 cm dickes Eis auf den Bürgersteigen ein, mein Experiment im ersten Winter: wie lange schaffe ich es bei minus 38 Grad ununterbrochen auf der Straße zu bleiben? Meine Panik, als ich damals die Aufgabe bekam, mit den deutschen Diözesandirektoren, die zum Jubiläum angereist waren, abends nochmal um den Block zu gehen, und als ich dann nach 20 Minuten merkte, dass meine Hände in den Taschen meiner dicken Daunenjacke in der Eiseskälte langsam gefühllos wurden...
Ich denke an abgefrorene Zehen, Finger und amputierte Beine, an Brandwunden vom vielleicht betrunkenem Einschlafen an den brühheißen Rohren in den Fernwärmeschächten, an das junge Mädchen, das zum Kiosk an den Bahngleisen von Barnaul zum Verbandswechsel kam. Täglich zu kommen hatte sie nicht geschafft, so musste Nadjeschda den Verband von einer bügeleisengroßen Verbrennungswunde herunterschneiden. Was darunter zum Vorschein kam, hat mich nicht so sehr geschockt. Ich hatte schon sehr vieles gesehen. Was mich aber fast zum Weinen brachte, war die Vorstellung, meine gleichaltrige Tochter könne dort sitzen.
Corona verschärft Probleme
Corona hat all diese Probleme extrem verschärft. Wissenschaftler gehen von ungefähr fünf Millionen Obdachlosen in normalen Zeiten aus. Zu ihnen werden diejenigen kommen, die ihre Arbeit und dadurch, dass sie die Raten für die Kredite nicht mehr zahlen können, ihre Wohnungen verlieren. Alle coronabedingten Grundregeln - Selbstisolierung, Schutzmaßnahmen wie Masken und Abstand, häufiges Händewaschen - sind auf der Straße quasi unmöglich. Ganz zu schweigen vom Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten, die für Menschen ohne Registrierung, Pass, Krankenversicherung auch sonst so gut wie unerreichbar sind.
Eine lebhafte Erinnerung an die Obdachlosenhilfe in Omsk kommt in mir hoch: Schwester Ursula hatte
den Krankenwagen gerufen, weil es einem der Männer sehr schlecht ging. Die Ambulanz weigerte sich, ihn mitzunehmen. Ein anderes Mal wurde Schwester Juliana angerufen, zwei Obdachlose mit amputierten Gliedmaßen waren von den Krankenhausmitarbeitern nach erfolgter Behandlung neben dem Eingang unter die Büsche gelegt worden. Als sie ankam, war einer von ihnen bereits verstorben.
Gibt es irgendetwas, womit sich dieser Artikel mit einer etwas positiveren Note beenden ließe? Schreiben über die NGOs, die sich für Obdachlose engagieren, die Angebote der Caritas und der orthodoxen Kirche, die Suppenküchen? Ja, gewiss, denn es gehört zur elementaren Christenpflicht, den an den Rand Gedrängten zu helfen - und zwar bedingungslos.
Die Caritas Sibirien hilft Wohnungslosen mit besonderem Engagement. Jeden Tag geht es aufs Neue darum, Menschen, die auf der Straße leben, vor dem Tod zu bewahren. Gott sei Dank gibt es viele Menschen vor Ort, die nicht locker lassen und jeden Tag ihr Möglichstes tun, um die Not zu lindern.
Denn es gilt: Was ihr für einen meiner geringsten Geschwister getan habt, das habt ihr mir getan. Das verdient unseren tiefsten Respekt.
Susanne Staets