Pionierarbeit
Krank oder alt zu werden und auf Hilfe angewiesen zu sein - das ist keine angenehme Vorstellung, auch in Deutschland nicht. Wer allerdings in Russ-land in eine solche Situation kommt, ist meist völlig auf sich allein gestellt, wenn er nicht Familie hat, die sich um ihn kümmert. An dieser Stelle setzt das Projekt der Hauskrankenpflege an, das die Caritas in Russland seit 2005 aufbaut.
Langsam hebt Galina mit beiden Händen das schmale Bein vom hellen Laken und beugt es leicht. "Du machst gut mit", lobt sie den Patienten, der vor ihr auf dem Bett liegt, das zugleich die Wohnzimmercouch ist. Oleg, 52 Jahre alt, lächelt, halb zahnlos. Er hebt folgsam die Arme über den Kopf, als Galina ihn dazu ermuntert und mit ihren Handgriffen unterstützt.
Wir sind in Wolgograd. Galina arbeitet bei der dortigen Caritas im Projekt der Hauskrankenpflege. Sie und ihre Kollegin Diana besuchen Menschen in ihren Wohnungen, die alt, krank oder beides sind und Hilfe benötigen. Was in Deutschland dank des Netzes aus ambulanter und stationärer Pflege selbstverständlich ist, bedeutet für Russland echte Pionierarbeit.
Im staatlichen Gesundheitssystem des Riesenlandes fehlen eine Finanzierung, gut ausgebildete Pflegekräfte sowie entsprechende Ausrüstung und Hilfsmittel - also die Grundlagen für eine pflegerische Versorgung. Lediglich für pflegebedürftige Menschen ohne Familienangehörige oder Alleinlebende sind stationäre Heimplätze oder ambulante Hilfen durch kommuna-le Sozialzentren vorgesehen. Doch das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Tipps für die Familie
Während Galina mit Oleg einfache Bewegungen übt, schauen dessen Frau und seine Mutter von der Tür aus zu. Der 52-Jährige hatte einen Schlaganfall, leidet an Diabetes, ist blind. Erst seitdem die Caritas-Pflegerin ihn regelmäßig behandelt, kann er sich wieder etwas bewegen. Bei ihren Besuchen - zweimal in der Woche eine Stunde - kümmert sich Galina nicht nur um den kranken Mann, sondern bezieht auch die beiden Frauen mit ein: Sie zeigt ihnen kleine Übungen zur Rehabilitation, und Handgriffe, wie sie ihn stützen können. Außerdem gibt sie Tipps für die Pflege.
Die Angehörigen einzubeziehen, ist ein wichtiger Bestand-teil des Hauskrankenpflege-Projektes. Meist sind es Frauen, die daheim mit der Pflege beauftragt werden - ohne dass sie in diesem Bereich Erfahrungen haben oder wissen, an wen sie sich mit ihren Fragen wenden können. Im schlimmsten Fall verschlechtern sich durch fal-sche Pflege die Situationen der Kranken sogar, etwa wenn durch eine unvorteilhafte Lagerung ein Dekubitus, also ein Wundliegegeschwür, hinzukommt oder auch eine Lungen-entzündung. Für die Angehöri-gen ist die Betreuung des Pflegebedürftigen eine ständige physische und psychische Belastung.
An elf Standorten in zehn Städten ist die russische Caritas inzwischen mit dem Hauskrankenpflege-Projekt aktiv. Ohne die finanzielle wie fachliche Unterstützung aus Deutschland wäre das nicht möglich. Nicht nur, weil eine staatliche Refinanzierung der ambulanten Pflege fehlt - die Caritas-Mitarbeitenden nehmen kein Geld für ihre Leistung. Außer, jemand möchte freiwillig etwas geben.
Das hat mindestens zwei Gründe. Zum einen sind viele Familien so arm, dass sie es sich nicht leisten
können, regelmäßig für die Besuche der Caritas zu bezahlen. Zum anderen würde die Caritas ihren Charakter als kirchliche Wohlfahrtsorganisation verlieren, wenn sie anfangen würde, Leistungen gegen Bezahlung anzubieten. Anders als in Deutschland, wo die Caritas der größte soziale Arbeitgeber ist, stellt sie im orthodox geprägten Russland lediglich den sozialen Arm einer Minderheitenkirche dar.
Fachliche Weiterbildung
Doch auch die fachliche Unterstützung aus Deutschland ist existenziell wichtig. Galina und ihre Kollegin Diana von der Hauskrankenpflege in Wol-gograd ergreifen gleich nach dem Besuch bei Oleg die Chance: Im Auto wenden sie sich an Anette Lindemann, Leiterin der Berufsfachschule Altenpflege am Bildungszentrum St. Hildegard in Osnabrück, die diese Reise ebenfalls begleitet. Sie wollen wissen, was Anette von den Übungen hält, die Galina mit dem Patienten durchgeführt hat, und sind an Tipps interessiert. Anette reckt den Daumen: "Das sah sehr gut aus." Sogleich entspinnt sich mittels Übersetzerin ein fachlich fundiertes Gespräch.
Das, was Galina über die ambulante Pflege weiß, hat sie auch mithilfe der Caritas gelernt. Sie hat früher als Krankenschwester gearbeitet und dann über die Caritas Fortbildungen zur Pflege besucht, um in der Hauskrankenpflege arbeiten zu können. Die Qualifizierung des Personals ist ein zentraler Bestandteil des Projektes. Über den Kontakt zu Caritas-Einrichtungen und -Pflegeschulen in Deutschland organisiert Caritas international Pflege-Fortbildungen für die russischen Mitarbeitenden.
Für viele der Teilnehmenden ist das Pflegeverständnis, wie es dort vermittelt wird, eher fremd - selbst wenn sie vorher im Gesundheitsbereich gearbeitet haben. Wer in Russland eine Ausbildung zur Krankenschwester macht, der lernt vor allem Dinge, die in Deutschland eher in den Bereich einer Arzthelferin fallen. Der Fokus liegt darauf, dem Arzt bei medizinischen Untersuchungen und Behand-lungen zu assistieren. Weniger im Mittelpunkt stehen die per-sönliche Zuwendung und die Rehabilitation - oder das Ziel, dem hilfebedürftigen Mensch ein möglichst selbstbestimmtes und selbstständiges Leben in Würde zu ermöglichen.
Zu Besuch im Hospiz
Deutlich wird dies, als wir das Hospiz in Wolgograd besuchen. Auf mehreren Etagen liegen in der staatlichen Einrichtung alte und kranke Menschen in Betten. Immerhin, die Zimmer sind hell, die Böden sauber, es riecht relativ unauffällig. Dennoch: Die Enge der Zimmer, in denen drei bis vier Betten dicht an dicht stehen, die Patienten darin, meist nur mit Windel und Unterhemd bekleidet, das alles bedrückt. Pflege bedeutet hier, dass die Windeln gewechselt werden und es möglichst nicht an Nahrung und medizinischer Betreuung fehlt.
Seit einiger Zeit kommen Galina und Diana regelmäßig hierher, um mit Patienten einfache Bewegungsübungen durchzu-führen und ihnen Zeit und menschliche Nähe zu schenken. Selbstverständlich ist das nicht, im Gegenteil: Sie berichten vom Misstrauen der Pfleger und Ärzte auf den Stationen, das anfänglich sehr groß gewesen sei und sich nur langsam lege.
Das deckt sich mit den Erfah-rungen an anderen Standorten der Hauskrankenpflege. Etwa, dass es Schwestern und Ärzten in Krankenhäusern teils untersagt wird, die Caritas zu empfehlen und auf deren Angebote aufmerksam zu machen. Dass die Caritas keine Flyer mehr in Krankenhausfluren auslegen darf, was früher noch ging. Das Klima wird insgesamt rauer, wovon nicht nur kirchliche, sondern auch andere Nicht-Regierungs-Organisationen in Russland ein Lied singen können.
Da feste Regeln fehlen, hängt viel vom Wohlwollen einzelner Personen in verantwortlichen Positionen ab. Wie im Fall des Wolgograder Hospizes: Dass Galina und Diana hier einen Fuß in die Tür bekommen ha-ben, ist zum einen ihrer höflichen, zurückhaltenden Art zu verdanken, zum anderen der offenen Haltung der Hospizleiterin. Sie empfängt uns zum Gespräch und betont, dass sie die Besuche der Caritas-Mitarbeiterinnen begrüßt und ihre Arbeit schätzt. Ein Glücksfall für das Projekt vor Ort.
Zeit für Patienten
Als wir in Marx die Mitarbeiterinnen der Hauskrankenpflege begleiten, wird deutlich, dass die Pflegekräfte in Russland zumindest einen Vorteil gegenüber den (meisten) deutschen Kollegen genießen: Sie bringen Zeit mit, viel Zeit. Unser Aufenthalt fällt in die Praktikumswochen von Eleonore Michanosin, einer jungen Russlanddeutschen, die eigentlich im Osnabrücker Land lebt und in Osnab-rück das Duale Studium Pflege absolviert, ein Angebot vom Bildungszentrum St. Hildegard und der Hochschule Osnabrück. Sie sagt: "Wir können uns hier intensiver um die Patienten kümmern. Wenn wir mit der Pflege fertig sind, setzen wir uns nicht selten noch mit den Angehörigen zum Tee zusammen, um zu hören, wie es ihnen geht, und um Tipps zu geben für den Umgang mit dem alten oder kranken Menschen."
Im Büro der Hauskrankenpflege in Marx hängen an den Wänden gerahmte Zertifikate von Fort-bildungen der Mitarbeiter neben großen Schautafeln, die Rollstühle, Rollatoren und andere medizinische Möbel und Hilfsmittel abbilden. Auf Regalen und einem Krankenbett stapeln sich Pflegeutensilien wie Lotionen und Windeln.
Von hier aus fahren die Mitar-beitenden zu ihren Hausbesuchen, und hier finden auch Schulungen für Angehörige statt. Tatjana, die Leiterin der Hauskrankenpflege, deutet auf die Materialien: "Wir verleihen zum Beispiel Krankenbetten, Rollstühle und Toilettenstühle an Patienten."
Auf Hilfe angewiesen
Eigentlich ist das Team zu viert, eine Kollegin ist während unseres Besuches allerdings in Mutterschutz. Dafür unterstützt Eleonore für einige Wochen das Team. "Unsere Hausbesuche machen wir zu Fuß oder mit dem Bus", sagt die junge Frau, während wir zu einer Patientin unterwegs sind, dieses Mal aus-nahmsweise mit dem Auto.
In Saratow, dem Sitz der Caritas für die Diözese St. Clemens, sitzen wir mit Oksana zusammen. Die Diözesan-Caritasdirektorin sorgt sich um die Zukunft des Hauskrankenpflege-Projektes. Sie weiß, dass sich das Projekt aufgrund der fehlenden Finanzierung in Russland wohl niemals selbst tragen, sondern immer auf finanzielle Hilfe aus Deutschland angewiesen sein wird. Aber sie sagt auch: "Der Bedarf ist da." Und sie sieht, dass so langsam und vereinzelt Pflegeagenturen an den Start gehen, die ebenfalls ambulante Hilfen anbieten - gegen Bezahlung und mit weniger gut ausgebildeten Mitarbeitern, jedoch mit dem Vorteil, nicht gegen die Vorurteile gegenüber einer kirchlichen Organisation kämpfen zu müssen. Der Markt für Pflege besteht in einer Gesellschaft, die altert.
Oleg, der Schlaganfall-Patient in Wolgograd, zeigt schließlich stolz am Rollstuhl stehend, dass er sogar eine Kniebeuge schafft. Sie ist etwas wackelig, aber dennoch beeindruckend, bedenkt man, dass er bis vor kurzem noch fast bewegungsunfähig war. Hier, in diesem Wohnzimmer in einem ärmlichen Plattenbau mitten in Wolgograd, wird deutlich, welchen Wert die Hauskrankenpflege hat. Oleg, der gestandene, kranke Mann von 52 Jahren, sagt mit erstick-ter Stimme: "Ohne diese Unterstützung wäre ich völlig hilflos." Und Galina streicht beruhigend über seine zitternde Hand.
(von Franziska Kückmann, stv. Pressesprecherin des Diözesancaritasverbandes Osnabrück)