Mutter-Kind-Heime
Ein Tag im Mutter-Kind-Heim St. Sofia beginnt früh. Bis zum späten Abend hat man das Gefühl, in einem großen Bienenstock zu sein. Eine Frau eilt zur Arbeit und hat vorher die Kinder in die Krippe gebracht, eine andere hat Dienst in der Küche und kocht das Mittagessen für die ganze Etage. Am Tisch sitzt eine Mutter und füttert ihre Zwillinge, eine andere bringt Sauberkeit in das gemeinsame Heim. Jemand verschwindet hinter der Tür zur Psychologin. Andere räumen die Einkäufe für die nächste Woche in die Speisekammer. Alle im Mutter-Kind-Heim versuchen eine Atmosphäre der Freundlichkeit und Unterstützung zu schaffen. Doch wo es viel Freude und Licht gibt, gibt es auch Tränen und Schatten, die von den schweren Schicksalen der Frauen und Kinder erzählen.
Als die Caritas in Sibirien ihre Arbeit aufnahm, wurde sehr schnell deutlich, dass vor allem alleinerziehende Mütter und Kinder in schwierigen Lebenssituationen dringend Hilfe benötigen. Neben Familienzentren und ambulanten Beratungsstellen wurden 1996 nach und nach stationäre Mutter-Kind-Heime in den drei sibirischen Städten Novosibirsk, Tscheljabinsk und zuletzt Barnaul ins Leben gerufen. Seitdem haben sie nicht mehr an Aktualität verloren.
"Wer in Russland eine intakte Familie hat, gesund ist und Ar-beit findet, kann gut leben. Doch sobald eine Komponente fehlt, fällt man durch das soziale Netz und wird nicht durch ein staatlich organisiertes Netz aufgefangen. Die Frauen, die hier leben, sind durch das Netz ge-fallen. Sie sind am Ende ihrer Kräfte. Aber sie haben einen großen Schatz, den sie nicht verlieren wollen und für den sie kämpfen: ihre Kinder." So beschreibt Julia Krjukowa, die seit zehn Jahren das Mutter-Kind-Heim St. Sofia in Novosibirsk leitet, die Situation der Frauen, die Hilfe in den Mutter-Kind-Heimen suchen. Frauen, die in Waisenhäusern aufgewachsen sind und nie ein liebevolles Umfeld erfahren haben, Frauen mit einer schwierigen Vergangenheit (Alkohol, Drogen, Gefängnis) und Frauen, die vor häuslicher Gewalt fliehen.
Vertrauen finden
Viele dieser Frauen haben Schwierigkeiten, eine Bindung zu ihren Kindern aufzubauen und wissen gar nicht, wie sie mit ihnen umgehen sollen. Gerade Frauen, die in Waisenhäusern aufgewachsen sind und nie elterliche Zuneigung erfahren haben, haben Probleme, diese nun ihren eigenen Kindern zu zeigen.
In den Mutter-Kind-Heimen er-halten Mütter und Kinder ein Dach über dem Kopf, eine vollwertige Ernährung und psy-chosoziale Hilfe. Manche für Monate, manche für Jahre. Sie lernen, mit ihren Lebensschwie-rigkeiten umzugehen und vor allem lernen sie wieder, Vertrauen zu finden - Vertrauen in das Leben, in andere Menschen und in sich selbst. Sie werden dabei psychologisch, juristisch und pädagogisch begleitet. Sozial-pädagogen, Hauswirtschaftle-rinnen und Freiwillige stehen ihnen ebenfalls zur Seite. So erhalten sie beispielsweise Unterstützung bei Behördengängen, bei der Kindererziehung und der Erarbeitung einer Lebensper-spektive. Der Weg aus Krisen heraus und zur Selbstständigkeit ist für keine der Frauen einfach, doch mithilfe der Mitarbeiten-den und dem ganzen Caritas-Team über Novosibirsk hinaus, werden die jungen Familien bestmöglich unterstützt. Doch nicht nur die Mitarbeitenden sind eine Hilfe. Viele der Frauen erleben zum ersten Mal eine familiäre Atmosphäre und trotz kleinerer Streitereien unterei-nander, wissen sie, dass auch andere Frauen mit schwierigen Situationen zu kämpfen haben. Dieses Wissen hilft ihnen auf ihrem Weg.
Mutter-Kind-Heime haben Modellcharakter
Lange waren die Mutter-Kind-Heime der Caritas in Sibirien die einzigen, die auf diese Weise mit den Müttern und Kindern arbeiten. Mittlerweile haben weitere Häuser eröffnet, wobei die Mutter-Kind-Heime der Caritas Modellcharakter haben. Doch ausreichen würden sie laut Julia Krjukowa leider nicht: "Wenn wir hier in Novosibirsk noch eine Etage einrichten wür-den, wäre sie sofort belegt. Würden wir darauf noch eine errichten, könnte sie wahrscheinlich auch sofort bezogen werden und das geht den anderen Mutter-Kind-Heimen in Tscheljabinsk und Barnaul genauso.”
Julia Krjukowa erinnert sich an einen ihrer ersten Arbeitstage, als wäre es gestern gewesen: "Ein paar Tage, nachdem ich im Mutter-Kind-Heim angefangen habe zu arbeiten, kam eine junge Frau auf uns zu. Sie war mittelgroß, schwanger, hatte einen riesigen Bluterguss im Gesicht und an Armen und Beinen blaue Flecken. Sie hielt einen kleinen, mageren Jungen in den Armen, und hinter ihr, den Saum ihres Kleides haltend, blickte ihre Tochter mit riesigen Augen voller Angst hervor. Die Frau weinte und konnte nicht sprechen. Irgendwann sagte sie leise: "Hilfe" und nachdem wir ihr Vertrauen gewonnen haben, er-zählte sie ihre Geschichte: Ihr Ehemann war ein gewalttätiger Mensch. Für seine Misserfolge gab er seiner Frau die Schuld. Zuhause gab es immer wieder Schläge und Wutausbrüche. Die Kinder litten darunter genau wie die Mutter. Das hart erwirtschaftete Geld verschwand immer häufiger nach einer durchzechten Nacht.
Es gab niemanden, der die Mutter und die Kinder schützte. Sie selbst ist im Kinderheim aufgewachsen
und hatte nie eine Familie. Die Familie des Mannes rechtfertigte immer wieder sein Verhalten und erinnerte sie an ihre Pflichten als Ehefrau - "Schläge gehören nun einmal dazu". Eineinhalb Jahre lang lebte die Familie bei uns. Es gab Höhen und Tiefen, für kurze Zeit versuchte die Mutter wieder bei ihrem Mann zu leben, kam aber nach einem Monat mit Verletzungen und Blutergüssen wieder. Dann hat sie sich entschieden, all das hinter sich zu lassen und selbstständig ein Leben aufzubauen. Dieser Prozess ist sehr lang und schwierig. Doch sie hat es mit Hilfe des ganzen Teams der Caritas geschafft. Die Mutter kommt uns heute noch mit ihren mittlerwei-le viel größeren Kindern oft besuchen. Sie anzuschauen und zu sehen, wie aus der völlig ver-ängstigten Person eine selbstbewusste Frau geworden ist, die vor ein paar Jahren eine eigene Wohnung mit ihren Kindern bezogen hat und selbstständig lebt, gibt mir in schwierigen Momenten immer wieder Kraft."
Schläge gelten nicht als Straftat
Diese Geschichte ist nur eine von vielen, die die Mitarbeiten-den der Mutter-Kind-Heime er-zählen können. Häusliche Gewalt ist oft der Auslöser dafür, dass die Mütter die Heime aufsuchen. Wie viele Frauen von Gewalt im eigenen Haus betroffen sind, ist nur schwer zu erfassen.
Durch das 2017 verabschiedete Gesetz, das Schläge unter Ehepartnern nicht als Straftat, sondern als Ordnungswidrigkeit definiert, werden weniger Fälle angezeigt. Die Strafe, die den Tätern droht, wird häufig aus der gemeinsamen, meist knapp bemessenen Kasse bezahlt. Dieses Geld fehlt dann für die Kinder und den Haushalt. Wenn die Mütter sich dann dazu entscheiden, die Reißleine zu ziehen, um sich und ihre Kinder zu schützen, suchen sie Unterstützung in den Mutter-Kind-Heimen.
Anfangs war es für Julia nicht leicht, nach der Arbeit abzu-schalten. Immer wieder wanderten ihre Gedanken zu dieser oder jener Frau oder zu den Kindern und sie überlegte die ganze Nacht, was noch getan werden kann. Denn eine Arbeit mit Menschen ist nicht einfach damit beendet, dass man nach Hause geht.
Wärme, Freundlichkeit und Unterstützung
"Das Mutter-Kind-Heim, dieser wunderbare Ort, ist für mich zu einem zweiten Zuhause geworden", erzählt Julia Krjukowa. "Oft bin ich wütend und traurig zugleich, wenn ich wieder eine Frau mit Blutergüssen im Gesicht sehe, wenn ich von trinkenden Männern höre oder wenn ich die Kinder sehe, die völlig erschöpft und voller Angst sind und kaum ein Wort sprechen. Die Mutter-Kind-Heime sind wie Inseln, wo sich die Mütter neu orientieren können, wo sie Liebe erfahren, und wo sie sich oft das erste Mal wirklich richtig um ihre Kinder kümmern können. Natürlich gelingt es uns nicht immer, mit einer schwierigen Situation fertig zu werden. Es kommt vor, dass eine Frau zu ihrem Ehemann zurückkehrt, mit den Schwierigkeiten nicht zurechtkommt und die Kinder in ein Waisenhaus abgibt oder zum Alkohol zurückkehrt. Und doch überwiegen die positiven Momente und ich bin glücklich, dass es Orte wie dieses Heim gibt, in denen jede Familie in Not Schutz finden kann. In unserem Team arbeiten keine gleichgül-tigen Menschen und das ist das Wichtigste! Wir alle befinden uns in einem steten Lernprozess und seitdem ich hier arbeite, gibt es regelmäßig Schulungen für uns Mitarbeitende in ganz unterschiedlichen Bereichen. Letztes Jahr habe ich beispielsweise an einem Kurs zu psycho-somatischen Problemen teilgenommen und daraus unglaublich viel mitgenommen. Außerdem stehen wir im engen Kontakt zu den Mutter-Kind-Heimen der Caritas in den anderen Städten und unterstützen uns gegenseitig. Der Welt fehlt es manchmal an Wärme, Freundlichkeit und Unterstützung, aber wenn man die Tür zu einem unserer Zentren öffnet, ist es genau das, was man spürt."
Hilfsangebote der Mutter-Kind-Heime der Caritas in Sibirien:
• Für Mütter mit Kindern unter 1,5 Jahren kostenlose Unterkunft und Vollversorgung
• Kostengünstige Unterkunft für Mütter mit Kindern ab 1,5 Jahren
• Psychologische Betreuung
• Erarbeitung einer Lebensperspektive
• Kinderbetreuung
• Juristische Beratung
• Unterstützung bei der Arbeitssuche
• Wiederherstellung von persönlichen Papieren
• Beantragung von Beihilfen, Lösung der Wohnfragen etc.
• Ambulante Unterstützung von Familien mit Kindern, die über einen eigenen Wohnraum verfügen
• Bereitstellung von Kinderkleidung, Kinderwagen, Möbeln, Babynahrung und Kleidung für die Mütter
Schulungen und Unterstützung der Mütter in folgenden Bereichen:
• Gesundheit und Ernährung von Kindern
• Entwicklung und Erziehung des Kindes
• Familienbeziehungen und Elternrolle
• Gesundheit und Ernährung der Mütter
• Haushaltsführung
• Lebens- und Familienplanung
• Lösung von Konfliktsituationen
Im Jahrgang 2016/2017 absolvierte Johanna Fipp ihren Freiwilligendienst im Ausland (FDA) mit dem Bistum Osnabrück in der Caritas Novosibirsk. Besonders engagierte sie sich im Mutter-Kind-Heim St. Sofia. Die Berliner Studentin der Sozial- und Kulturanthropologie hält auch heute noch Kontakt zu den Müttern und Kindern und auch zu ihren ehemaligen Kolleginnen nach Sibirien.