Konfliktschwangerschaften
Für die einen ist es lang ersehntes Glück und große Freude - ein positiver Schwangerschaftstest. Für die anderen ist es der Auslöser einer ganzen Kette von Verunsicherung, Existenzangst, Anschuldigungen und leider auch Gewalt. Dies gilt in allen Ländern der Welt, auch in Deutschland und auch in Russland. Nur die Möglichkeiten, Hilfe, Beratung und Unterstützung in dieser Situation zu bekommen, unterscheiden sich oft dramatisch.
Russland hat in den vergangenen Jahren die Unterstützung für junge Familien angesichts des massiven Geburtenrückgangs deutlich ausgebaut. Zahlreiche punktuelle Zahlungen sollen es den Familien erleichtern, sich für die Geburt von Kindern zu entscheiden. Die Geburt stellt dennoch gerade für sozial schwache Familien weiterhin ein Existenzrisiko dar, da begleitende Maßnahmen - medizinische Infrastruktur, Kinderbetreuung, Wohnungsgrundsicherung, Arbeits- und Wiedereinstiegsmöglichkeiten für junge (alleinerziehende) Mütter o.ä. - fehlen, die nicht nur die Geburt, sondern auch das Leben mit einem oder mehreren Kindern erleichtern. Dieses Risiko wächst für sozial besonders verwundbare Gruppen: Migrantinnen, Frauen aus Kinderheimen, besonders junge oder kinderreiche Mütter. Da diese Gruppen oft nur durch ihren Lebenspartner sozial geschützt sind - durch seine Wohnung, sein Gehalt und eventuelle weitere Familienmitglieder - stürzt mit einer ungeplanten Schwangerschaft häufig die gesamte Lebensplanung zusammen, wenn der Kindsvater die Schwangerschaft ablehnt. Grundsätzliche gesellschaftliche Probleme wie fehlende sexuelle Aufklärung in Schule und Öffentlichkeit, ein geringes Verantwortungsbewusstsein bei (jungen) Männern, weit verbreitet Sucht-Probleme sowie ein extrem patriarchales Familienbild verschärfen die Situation von schwangeren Frauen zusätzlich.
Dies alles, aber auch die noch nicht aufgeholte Familienpolitik der Sowjetunion führen zu einer anhaltend hohen Abtreibungsrate. Abtreibungen waren in der Sowjetunion als Element eines angeblich fortschrittlichen Frauenbilds rechtlich und medizinisch umfassend gewährleistet, sie entwickelten sich damit quasi zur Familienplanungsmethode Nr. 1. Bis heute hat sich daran wenig geändert, auch wenn Kirchen und andere Verbände eine Verschärfung des bisher sehr liberalen Abtreibungsrechts anstreben. Die komplexen Umstände der Frauen machen eine komplexe Arbeit von Hilfeeinrichtungen notwendig. Nur materielle oder nur psychologische Hilfe, aber auch einseitige Abtreibungsprävention greifen zu kurz, wenn man den Frauen wirklich eine Perspektive eröffnen will.
2003 startete in St. Petersburg das Projekt "Schutz des Lebens". Damals war das Petersburger Projekt etwas Neues, auch wenn es in anderen Teilen Russlands bereits Projekte gab, die Frauen Unterstützung anboten, die über eine Abtreibung nachdachten. In dem Petersburger Projekt versuchte man, gemeinsam mit den Müttern eine umfassende Perspektive für die folgenden Jahre nach der Geburt zu entwickeln. Sie erhielten neben materieller Unterstützung (Medikamente, Windeln, Second-Hand-Kleidung, Lebensmittel) auch umfassende juristische, psychologische, pädagogische und medizinisch-hygienische Beratung. Bis heute hat sich an diesem Prinzip nichts geändert. Die schwangeren Frauen werden bis zum Ende des zweiten Lebensjahres des Kindes vom Projekt umfassend begleitet.
Das Projekt wendet sich vor allem an Frauen und Familien, die von den staatlichen Stellen keine Unterstützung erwarten können: Frauen ohne örtliche Anmeldung, also vor allem Migrantinnen und Bewohnerinnen aus anderen Regionen Russlands, die keine eigene Wohnung in der Stadt haben. Die städtischen Zentren bieten Beratungen bei der Beantragung von Leistungen oder materieller Hilfe, Beratung durch Juristen und Psychologen. Ohne eine offizielle Meldung am Wohnort kann eine Frau dort allerdings keine Hilfe bekommen. Dies gilt auch für die städtischen Notunterkünfte für Mütter mit Kindern.
500 Kinder kamen mit Unterstützung des Projektes zur Welt
Seit dem Beginn des Projekts wurden dank seiner Hilfe knapp 500 Kinder in ihren Familien geboren. Allein in den letzten zwei Jahren wurden 107 Frauen und 241 Kinder vom Projekt begleitet, von ihnen waren 34% Migrantinnen, 55% kinderreiche Mütter (mit 3 oder mehr Kindern), 5% Minderjährige, 6% - HIV-infizierte Mütter.
Aus "Schutz des Lebens" wird "Mutter und Kind"
Was als "Schutz des Lebens" begann, wurde ab 2010 unter den Namen "Mutter und Kind" fortgesetzt. Zur bisherigen Arbeit zum Lebensbeginn des Kindes kam die Vernetzung mit staatlichen Strukturen und anderen nichtstaatlichen Organisationen. So sollte die punktuelle Hilfe zu einem Hilfesystem für die Frauen und Familien werden. Auch die Nachhaltigkeit der Hilfsleistungen sollte so wachsen.
Das Projekt "Mutter und Kind" ist auf eine eigene Finanzierung angewiesen. Eine staatliche Finanzierung von wohltätigen Projekten für sozial schwache Zielgruppen ist auch 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion nur sehr begrenzt möglich. Die finanzielle Unterstützung aus Deutschland ist somit existenziell wichtig. Die Arbeit wird zurzeit hauptsächlich aus einem Projekt des Präsidenten-Fonds, vom Kindermissionswerk und von EINE KUH FÜR MARX, der Russland-Hilfe des Diözesancaritasverbandes Osnabrück, finanziert. Wichtige materielle Unterstützung erhält das Projekt auch von der Gemeinde "Maria-Himmelfahrt", auf deren Grundstück die Projekträume liegen, sowie von der Gemeinde und den Dominikanern der Kirche der Hl. Katherina am Nevskij-Prospekt.
Das Projekt "Mutter und Kind" war zunächst ein Projekt der Caritas St. Petersburg, wechselte dann in neue, eigene Räume auf dem Gelände der Maria-Himmelfahrt-Kirche und damit zu dem Malteser-Hilfsdienst. Vor wenigen Jahren ist aus dem Projekt schließlich eine selbstständige gemeinnützige Organisation geworden. Die Caritas St. Petersburg führt ihr "Mutter-Kind"-Projekt in einem anderen Stadtteil von St. Petersburg fort, um noch mehr Familien zu erreichen. Beide Projekte kooperieren nach Möglichkeit miteinander.
Auch die Mütter und Familien, die im Projekt selbst Hilfe bekommen, werden häufig zu wichtigen Trägerinnen der Projektarbeit - als Ehrenamtliche, die anderen Familien helfen, In-formationen weitergeben, die Arbeit des Projekts unterstützen. Solange der Staat die schwächsten der Gesellschaft nur minimal unterstützt, hängen Leben und Wohlergehen der (ungeborenen) Kinder und Mütter von der engagierten Hilfe anderer Frauen und ausländischer Freunde ab.