Über 25 Jahre EINE KUH FÜR MARX
"Dann kann ich selbst Käse und Quark herstellen und davon etwas verkaufen", sagt Sergej. Ottmar Steffan von der Osnabrücker Caritas nickt. Der Stall sieht gut aus. Sergej wird seine Kuh bekommen.
In einem Dorf wie Stepnoje, etwa 50 Kilometer von der russischen Stadt Marx entfernt, mitten in der weiten Wolga-Steppe gelegen, kann eine Kuh noch immer das Überleben sichern. In dieser Region nahm vor über 20 Jahren die Russlandhilfe des Caritasverbandes für die Diözese Osnabrück ihren Anfang. Benannt ist sie nach dem Kuh-Projekt und der nahen Kleinstadt: EINE KUH FÜR MARX.
Mehr als 800 Tiere sind seit der Geburtsstunde des Projektes gespendet worden. "Kuh-Familien verpflichten sich, das Tier angemessen zu halten und das erste Kalb an eine weitere bedürftige Familie abzugeben", erläutert Ottmar Steffan, Fachreferent für Mittel- und Osteuropa beim Caritasverband für die Diözese Osnabrück.
Die Kuh ist zum Symbol für die Russlandhilfe der Osnabrücker Caritas geworden. Das Gesicht der Russlandhilfe ist Ottmar Steffan. Er war es, der vor über 20 Jahren den Anstoß für das Engagement in Russland gab. Seitdem hält er die Fäden in der Hand, hat zahlreiche Kontakte geknüpft und gemeinsam mit den Akteuren vor Ort weitere Projekte auf den Weg gebracht. In der Wolga-Region, in Sibirien und in St. Petersburg gibt es mittlerweile Kooperationen zwischen der Osnabrücker Caritas und dortigen Caritasverbänden, Pfarrgemeinden und Ordensleuten.
"Unsere Unterstützung hat mit der Zeit vielfältigere Züge angenommen", sagt er. Neben dem Kuh-Projekt stehen andernorts Obdachlose im Fokus, aber auch Familien und Kinder in den Kinderzentren und Mutter-Kind-Häusern. Mit der Hauskrankenpflege leistet die Caritas Pionierarbeit - ambulante Hilfe ist im staatlichen Gesundheitssystem Russlands nicht vorgesehen. Darüber hinaus wird an vielen Stellen Nothilfe geleistet für Menschen, die von extremer Armut betroffen sind.
In Marx, dort, wo alles begann, steht heute ein kleines Ensemble aus katholischer Kirche, Pfarrhaus und Kloster. Hier war Clemens Pickel aus dem Bistum Meißen-Dresden Pfarrer, bevor er 1998 in Moskau zum Weihbischof ernannt wurde. Ein kleiner Bericht darüber im Osnabrücker "Kirchenboten" war Anlass für Ottmar Steffan, ihm ein Fax zu schicken und zu fragen, ob er Interesse an einer Zusammenarbeit habe.
"Zu dieser Zeit habe ich in Osnabrück in der Caritas-Beratung für Spätaussiedler gearbeitet und hatte gemeinsam mit anderen Ehrenamtlichen schon einige Transporte mit Hilfsgütern nach Russland organisiert", erinnert sich Ottmar Steffan. "Aber mir fehlte ein fester Ansprechpartner auf der anderen Seite." Binnen weniger Stunden bekam er damals von Weihbischof Clemens Pickel eine Antwort per Fax samt Einladung nach Marx - dieser 24. Juni 1998 gilt als Geburtsstunde der Russlandhilfe. Bis heute ist der enge Kontakt zwischen Ottmar Steffan und Clemens Pickel, inzwischen Bischof im Bistum St. Clemens mit Sitz in Saratow, einer der Grundpfeiler von EINE KUH FÜR MARX. Darüber hinaus hat sich ein weites Netz aus Ansprechpartnern sowie Austausch- und Begegnungsprogrammen entwickelt. In Deutschland sitzt die Osnabrücker Caritas mit am Runden Tisch, an dem Hilfsorganisationen wie weitere Caritasverbände, Caritas international, das Kindermissionswerk, die Sibirienhilfe und Renovabis die Finanzierung der großen Projekte wie der Kinderzentren und der Hauskrankenpflege gemeinsam auf die Beine stellen.
Die russische Caritas ist zwingend auf diese Unterstützung angewiesen. "Wir haben so gut wie keine staatliche Finanzierung sozialer Hilfen" sagt Oksana Lebedeva, Direktorin des Diözesancaritasverbandes im Bistum St. Clemens. Das Spendensammeln gestaltet sich schwierig in Russland - nur für die Hauskrankenpflege kommen hin und wieder Zuwendungen. Viele Menschen leben in prekären Verhältnissen; die aktuelle Wirtschaftskrise verschlechtert diese Situation zusätzlich. Zum Abgeben bleibt da nicht viel. "Und der Bedarf an Hilfe wird größer", lautet die Einschätzung der Caritasdirektorin. Das merkt auch Ottmar Steffan bei seinen regelmäßigen Reisen nach Russland. Zugleich freut es ihn zu sehen, mit welchem Engagement und welcher Menschlichkeit die Caritas-Mitarbeitenden trotz der nicht einfachen Rahmenbedingungen an die Arbeit gehen. "Das berührt mich auch nach 20 Jahren noch", sagt er nach dem Besuch bei einem 52-jährigen Schlaganfall-Patienten in Wolgograd, der von der Caritas-Kollegin der Hauskrankenpflege liebevoll betreut wird.
Aus der ersten Kuh für eine Familie in Marx ist in zwei Jahrzehnten ein stabiles Netzwerk der Hilfe geworden. Ausdruck dafür ist auch die vielfältige Unterstützung in der Heimat. Egal ob die Kloster- und Spielplatzbauer, die für Arbeitseinsätze ehrenamtlich in russische Kirchengemeinden fahren, die Freiwilligendienstler, die über das Bistum ein Jahr bei der Caritas in Russland arbeiten, oder die vielen Gruppen und Einzelpersonen, die regelmäßig spenden: EINE KUH FÜR MARX hat zahlreiche Freunde und Förderer im ganzen Bistum Osnabrück und weit darüber hinaus. "Ohne dies wäre unsere Hilfe nicht möglich", bringt Ottmar Steffan es auf den Punkt.
In Stepnoje winkt Sergej zum Abschied, als der Besuch aus Deutschland sein Grundstück verlässt. Eine staubige Straße führt zurück zum Dorfplatz mit der kleinen hölzernen Kirche. Davor, auf dem spärlichen Grün, stehen ein paar Kühe und schauen neugierig. Caritas-Kühe? Ottmar Steffan lächelt. "Sehr wahrscheinlich", sagt er.