Grußwort Bischof Clemens Pickel
Als mich der Apostolische Nuntius in Russland, Erzbischof Georg Zur, am 7. Juni 1998 in Marx an der Wolga zum Bischof weihte - und mir im Namen von Papst Johannes Paul II. die Seelsorge für den Süden des europäischen Russlands anvertraut wurde, für ein Gebiet, so groß wie Portugal, Spanien, Frankreich und Deutschland zusammen(!), da musste ich nicht bei "Null" anfangen. Zwar hatte der letzte katholische Bischof Saratow am 14. August 1918 verlassen, zu Fuß, aber die Jahrzehnte der gott- und menschenverachtenden Verfolgung von Gläubigen waren vorbei.
Schon seit Anfang der 90-er Jahre waren Priester und Ordensleute aus dem Ausland zum Helfen gekommen, Menschen, die jahrzehntelang ohne sichtbare Kirche durchgehalten und (interessant!) gewartet hatten. Der Anfang der 90-er - das war eine besonders schwere Zeit für Russland. Am zweiten Weihnachtsfeiertag 1991 wurde die Sowjetunion aufgelöst. In anderen Teilen Osteuropas sprach man zu jener Zeit von der "Wende", welche dann nach ein paar Jahren mit den entsprechenden Ergebnissen vorbei war. Im gigantischen Russland dauerte (dauert) jedoch alles länger. Statt von Wende, müsste man vielleicht von einem Strudel sprechen, in den die Menschen gerieten: Arbeitslosigkeit, Inflation, Rechtsunsicherheiten und -lücken, Oligarchen und - auf der anderen Seite - Obdachlose … Viele hatten nicht einmal mehr das Geld, um zum Begräbnis von Verwandten zu fahren. Die Winter wurden zu besonders gefürchteten Zeiten. Da verstand es sich von selbst, dass Seel-Sorge nicht am Leib vorbeigehen konnte. Als Kirche einer verschwindend kleinen Minderheit im Land einerseits, und als Teilchen der Weltkirche andererseits, nahmen wir uns mancher sozialeren Herausforderungen an. Ich war seit 1991 Pfarrer in Marx und erlebte die Talfahrt nach dem Zusammenbruch der Planwirtschaft als neuen Alltag. Gut, dass ich Verwandte und Freunde in Deutschland hatte! In Moskau gab es damals einen italienischen Diakon, der die Sache systematischer anging: Antonio Santi. Und als Moskau am 13. April 1991 seinen ersten katholischen Bischof bekam, war "Caritas" schon da.
Jene Neunziger waren aber auch eine Zeit des Aufbruchs und vieler Hoffnungen. Die Caritasstationen, die damals schon im Süden Russlands entstanden - immer in gutem Kontakt mit Antonio in Moskau, wurde zu einer Art Aushängeschild für katholische Kirche, denn allein mit dem Wort "katholisch" konnten nach 70 Jahren Atheismus die Wenigsten etwas anfangen. Noch heute werden sich manche an die Lebensmittelpakete im Winter erinnern, oder an die Sprechstunden für Menschen in sozialer Not.
Kommen wir aber zum Jahr 1998, als mir durch die Bischofsweihe ein Quasi-Bistum übertragen wurde.
Jetzt musste ich mir einen Generalvikar suchen, ein Büro für die Arbeit, einen Nachfolger für die Pfarrei in Marx. Die riesigen Entfernungen und die schnell steigenden Reise- und Transportkosten machten großflächige Projekte immer aufwendiger. Unsere Präsenz im Süden rutschte in Moskau mehr und mehr unter den Tisch. Dennoch waren wir als Caritas - wenn es um Finanzierung ging - abhängig von der 1.000 km entfernten Zentrale. Und sogar Anstellungen und Entlassungen in den Caritasbüros Südrusslands wurden in Moskau entschieden. So wandte ich mich zwei Monate nach meiner Bischofsweihe erstmals mit der Bitte um Hilfe an einen Freund bei der Caritas in Frankfurt/Oder. Es ging mir ums Verstehen und Sortieren des Vorhandenen, und um die Entwicklung einer tragfähigen Caritas-Struktur für die Zukunft. Heinz Adler konnte leider nicht zusagen. Das nächste "Dokument" in meinem Caritasordner ist ein Schema für den Aufbau von Caritasstrukturen im Bistum Südrussland, (obwohl damals noch keine Rede von "Bistum" war. Ein Versehen, aber prophetisch!) Es ist mit 12.08.99 datiert und trägt die Handschrift von … Ottmar Steffan. (Er und der Diözesanverband der Caritas im Bistum Osnabrück wurden zum Motor unserer Bistumspartnerschaft.) Nun ging es vorwärts.
Am 19.09.2000 ernannte ich Igor Krivulin zum ersten Caritasdirektor der "Caritas im Süden des europäischen Russlands", einer vorerst innerkirchlichen Struktur. Igor - Ehemann, Vater eines Sohnes, aktiver Katholik, hatte Management studiert, teilweise sogar in den USA, überzeugte mit seinem Auftreten, verstand es, in großen Zusammenhängen zu denken. Das Arbeiten mit ihm machte Freude. Als Präsidenten der Caritas stellte ich ihm den polnischen Pater Grzegorz Rukstello zur Seite. Dessen seelsorglich praxisbezogener Zugang zur Sache war eine passende Ergänzung. Bei meinen Besuchen in den Pfarrgemeinden lernte ich die sechs recht selbständigen Caritasbüros und deren Tätigkeit im Bistum kennen. Interessant war zu sehen, dass manchmal die Pfarrgemeinden dort, wo es Caritas als Institution gab, nicht so ansprechbar für caritative Themen waren wie jene, die Caritas als Institution nicht kannten. Drei Jahre später, im August 2003, verließ uns Igor Krivulin. Eine Situation, die heute nicht anders aussehen würde: Wir können nicht mithalten, wenn es um bessere Gehälter für gut qualifizierte Fachleute geht… Ein Krisenmoment für unsere junge Caritasstruktur. Es war ein alternativloses Wagnis, als ich am 19.08.2003 die 26-jährige Oksana Khmara zur Nachfolgerin des Diözesandirektors ernannte. Die junge Juristin beeindruckte durch ihren Weg zum Glauben, durch ihre Bescheidenheit und einen starken Charakter. Gleichzeitig war sie ein stiller Mensch, was bei ersten Konferenzen und Begegnungen außerhalb des Bistums nicht überall imponierte. Heute wüsste ich keinen mehr, der mir widerspricht, wenn ich sage: Besser hätten wird es nicht treffen können.
Längst bin ich selbst Präsident der Diözesancaritas. Oksana und die Direktoren der Regionalbüros nehmen an den Pastoralkonferenzen unserer Priester und Ordensleute teil. Unser Bestreben geht dahin, dass alle katholischen Christen im Bistum verstehen und im Herzen wiederholen können: "Caritas - das sind wir. Alle!" Kirche ohne Caritas wäre ein Krüppel. Die Struktur ist besonders nötig bei Großprojekten wie der Hauskrankenpflege und den Kinderzentren und in unvorhergesehenen Situationen (Naturkatastrophen, Flüchtlinge, …). Insgesamt aber kann man im Alltag auch ohne Geld, Projekte und Struktur barmherzig sein. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass Oksana - heute Ehefrau und Mutter - ein geistlicher Mensch ist. Ich bin dankbar, eine solche Direktorin der Diözesancaritas zu haben.
Leider trifft das in den letzten beiden Jahren gewachsene Misstrauen gegenüber nichtstaatlichen Organisationen, die Verbindung ins Ausland haben, von Zeit zu Zeit auch unsere kirchlichen Strukturen. Zusätzlich zu den regelmäßigen Kontrollen durch verschiedene staatliche Organe, kommen unangemeldete. Auch wenn alles - meist geht es um die Buchhaltung - in Ordnung ist, machen solche tagelangen Prozeduren müde. Hoffentlich nehmen sie unseren Caritasmitarbeitern und Mitarbeiterinnen, sowie den Freiwilligen weder Mut zum - noch Freude am Dienst.
Dass wir das 15. Jahr unserer Diözesancaritas endlich nicht mehr in einer kleinen Wohnung, sondern in hellen, geräumigen Büroräumen feiern können, verdanken wir zum Großteil Wohltätern, die nicht genannt sein möchten. Oksana und ihr Team arbeiten nur 2 Fußwegminuten von meinem Büro entfernt. Wir sehen uns inzwischen nicht nur bei Dienstbesprechungen, sondern auch beim täglichen gemeinsamen Mittagsgebet und Mittagessen.
Wie es wohl weitergehen wird? Ich weiß, dass wir uns nicht jagen lassen dürfen von den Erwartungen anderer. Wir brauchen Partner, die uns akzeptieren und uns nicht die Kompetenz für Entscheidungen absprechen. Wichtig ist uns, im Glauben stark zu sein, und lebendig. Das soll immer wieder der Ausgangspunkt unserer Pläne sein. Wir wollen aufmerksam sein und das tun, was heute ansteht. "Schneller - höher - weiter" ist nicht unser Prinzip. Caritas hat ihren Platz nicht neben, sondern in der Kirche.