Unterwegs in einem Land der Extreme
Von Franziska Kückmann, stv. Pressesprecherin (Text und Fotos)
Der Klang der Orgel dröhnt in meinen Ohren. Ich sitze in der katholischen Kirche im russischen Kasan, wir haben gerade die Heilige Messe gefeiert, morgen geht es zurück nach Deutschland. Während die gewaltigen Töne den Kirchenraum und meinen Körper erfüllen, lasse ich die vergangenen zehn Tage noch einmal wie einen Film vor meinem inneren Auge ablaufen. Zehn Tage, sieben Betten, 2500 zurückgelegte Kilometer - ohne An- und Abreise, wohlgemerkt. Russland, du hast mich gefordert.
Abwechslungsreiche anderthalb Wochen liegen hinter uns. Wir haben unsere Füße auf den Boden in Wolgograd, einst Stalingrad, gesetzt, das untrennbar wie kaum ein anderer Ort mit den Schrecken des Zweiten Weltkriegs verbunden ist. Wir haben uns auf die Spuren der Russlanddeutschen an der Wolga begeben, vor allem in Marx, in dessen Umgebung einst zahllose Deutsche lebten und teils noch leben. Und wir sind durch Prachtstraßen in Kasan gewandelt, in denen nichts, aber auch wirklich nichts daran erinnert, dass nur wenige hundert Kilometer weiter, in einfachen Dörfern in der Wolga-Steppe, eine Kuh und ein eigener Garten tatsächlich das Überleben sichern.
Herz verloren
Wir, das sind neben mir Ottmar Steffan sowie Anette Lindemann, die Leiterin der Fachschule für Altenpflege am Bildungszentrum St. Hildegard in Osnabrück, und ihre Schwester Grete Mewes. Ein Russland-Kenner und drei Russland-Neulinge. Mindestens einer davon - ich kann ja nur für mich sprechen - hat ein Teil seines Herzens irgendwo an der Wolga an dieses Land verloren.
Trotz aller Wow-Momente haben wir auf unserer Reise auch gesehen, wie fragil und teils schwierig noch immer katholisches Leben und die Arbeit der Caritas in Russland sind. Jahrzehnte des anti-religiösen Kommunismus lassen sich in den Herzen und Köpfen der Menschen nicht einfach auslöschen. Unermüdliche Pfarrer, Ordensschwestern, Caritas-Mitarbeitende und Ehrenamtliche engagieren sich dafür, Glauben und caritatives Wirken sichtbar zu machen, teils über die Grenze der eigenen Energiereserven hinaus. Die Russlandhilfe "Eine Kuh für Marx" der Osnabrücker Caritas unterstützt sie dabei seit inzwischen 20 Jahren.
Auf Augenhöhe
Das ist ein Grund, weshalb Gäste aus Osnabrück mit weit ausgebreiteten Armen und entwaffnender Herzlichkeit empfangen werden. Der andere Grund heißt Ottmar. Wo immer wir hinkommen, seine Freundschaft mit den Akteuren vor Ort ist schon da. Seine tiefen, fest verwurzelten Bindungen zu diesen Menschen lassen ehrliche, offene Gespräche auf Augenhöhe zu. Hier kommt nicht der Geldgeber aus Deutschland, sondern ein Partner und Freund, der erst einmal zuhört und behutsam nachfragt. Das schafft ein Vertrauen, das seit 20 Jahren die Russlandhilfe trägt.
Inna, die Caritasdirektorin in Wolgograd, empfängt uns am Flughafen in Wolgograd mit einem winkenden Caritas-Fähnchen. Nicht nur sie strahlt, auch die Sonne lacht - genau wie in den kommenden neun Tagen. Auf den Straßen vom Flughafen zur Stadt steht trotzdem an vielen Stellen das Schmelzwasser in großen Pfützen. Bis vor wenigen Tagen lag noch Schnee, nun kommt langsam der milde Frühling. Später erfahren wir, dass starke Überschwemmungen am Fluss Don südwestlich von Wolgagrad bereits Tausende Menschen in die Flucht getrieben haben.
Tatkräftiges Team
Für die ersten zwei Nächte beziehen wir Gästezimmer in den Räumen der Caritas. Diese liegen unterhalb der katholischen Kirche, sozusagen in den Katakomben. Der Lage eine allzu metaphorische Bedeutung beizumessen, würde der Arbeit des Caritas-Teams nicht gerecht. Inna und ihre zehn Kollegen bilden eine tatkräftige Mannschaft. Wir lernen sie am nächsten Vormittag kennen. Die Caritas in Wolgograd betreibt ein Kinderzentrum und ist in der Hauskrankenpflege und der Obdachlosenarbeit aktiv. Im Eingangsbereich des Büros stapeln sich zudem Kleidung und Haushaltsgegenstände - von Armut Betroffene und vor allem alleinerziehende Mütter finden hier schnelle und unkomplizierte Hilfe.
Im ersten Gespräch mit dem Team kommen bereits die Themen auf den Tisch, die uns im weiteren Verlauf der Reise immer wieder begegnen werden: Armut ist ein großes Problem, und zwar lebensbedrohliche Armut. Wohnungslose, die sich an Fernwärmerohre drängen, um nicht zu erfrieren, und sich dabei verbrühen. Alleinerziehende Mütter, die nicht wissen, wie sie ihre Kinder ernähren sollen. Männer, die zu viel trinken. Gewalt, vor allem in Familien. Vereinsamung und mangelnde Pflege bei alten Menschen. Ein fragwürdiges Gesundheitssystem. Krank und alt, das möchte hier niemand werden, hören wir ein ums andere Mal.
Wichtige Angebote
Wir begleiten Galina und Diana von der Hauskrankenpflege zu Oleg, 52 Jahre alt, der einen Schlaganfall hatte und sich dank der Unterstützung durch die Caritas-Mitarbeiterinnen inzwischen wieder besser bewegen kann. Stolz führt er uns zwei wackelige Kniebeugen an seinem Rollstuhl vor, nachdem Galina seine Beine massiert hat. Die Pflegerinnen nehmen nichts für diese Betreuung, höchstens dann und wann eine kleine Spende, wenn sich das jemand leisten kann. Eine Refinanzierung für Pflege gibt es in Russland nicht. Wie wichtig dieses Angebot jedoch ist, wird spätestens in dem Moment deutlich, als Oleg mit brechender Stimme sagt, dass er ohne diese Unterstützung völlig hilflos wäre.
Von der Bedrücktheit des Krankenzimmers zu strahlenden Kinderaugen: In vielerlei Hinsicht ist unsere Reise eine Abfolge von Extremen. In den Kinderzentren in Wolschski bei Wolgograd und später in Astrachan und Marx empfangen uns neugierige kleine Besucher, die uns Papierblumen basteln und selbst gemachte Seifen schenken. Das Besondere am Angebot in Wolschski: Hier haben sich die beiden Pädagoginnen der Caritas im Konferenzraum eines Hotels eingerichtet, in dem auf zwei Etagen seit vier Jahren Geflüchtete aus der Ostukraine leben. Für die Kinder ist das Spielen und Basteln eine willkommene Alternative zur Enge der Hotelzimmer, in denen teils mehrköpfige Familien auf etwa zwölf Quadratmetern wohnen.
Auch das ist Russland
Szenenwechsel, mal wieder extrem. Der Kleinbus bringt uns ins knapp 400 Kilometer entfernte Elista, die Hauptstadt des Volkes der Kalmyken, gelegen mitten in der endlosen Wolga-Steppe. Hier, im Zentrum des russischen Buddhismus, dominieren Tempel und Buddha-Statuen statt orthodoxer Kirchen und Lenin-Denkmäler. Wir bleiben eine Nacht im Haus von Alberta aus der italienischen Gemeinschaft des Johannes XXIII. und tauchen ein in die Wärme, Energie und Vertrautheit einer zusammengewürfelten und zusammengewachsenen Familie. Alberta, zu diesem Zeitpunkt selbst in ihrer italienischen Heimat, hat einst Kinder aus schwierigen Verhältnissen und teils mit Beeinträchtigung aufgenommen und ihnen ein Heim gegeben. So viel Liebe und Selbstlosigkeit wie in diesem Haus macht uns, die Russland-Neulinge, beinahe sprachlos.
In Astrachan, 300 Kilometer weiter südöstlich, fast an der Wolga-Mündung, besuchen wir zwei weitere dieser Einrichtungen der italienischen Gemeinschaft. Vor allem aber treffen wir Pater Michail aus Polen, an dem alles schnell ist. Er spricht schnell, geht schnell, lacht viel und hat in Astrachan über Jahre mit Zähigkeit und gegen unzählige Widerstände ein neues Pfarrhaus aufgebaut, in dem auch das Kinderzentrum und der Jugendclub untergebracht sind. Die Kirche und das Haus liegen mitten in einem muslimisch geprägten Viertel. Beim Gang über den orientalisch anmutenden Markt erklingt der Muezzin-Ruf. Auch das ist Russland.
Auf Spurensuche
Ottmar hatte uns erzählt, dass die Fahrt im Nachtzug eine besondere Atmosphäre mit sich bringt. Oh ja. 11 Stunden tuckern wir gemütlich mit maximal 60 Stundenkilometern durch die Wolga-Weite gen Norden nach Saratow, ungefähr 700 Kilometer. Das Rattern des Zuges begleitet mich in den Schlaf. Am nächsten Morgen gibt es Tee aus dem Samowar. Ein russischer Mitreisender bleibt stehen und zählt uns deutsche Marken auf, die er kennt - VW, Siemens, Bayern München. Der Nachbar aus dem Bett gegenüber schenkt uns kurz vor der Ankunft getrocknete Aprikosen von seinen Eltern aus Tadschikistan.
In Saratow werden wir abgeholt und es geht mit dem Bulli nach Marx, noch einmal etwa eine Stunde Fahrt. Wir treffen Eleonore aus Osnabrück, die gerade ein Praktikum bei der Hauskrankenpflege macht. Marx ist so etwas wie der Kern der Russlandhilfe, der Ursprungsort, an dem vor 20 Jahren diese freundschaftliche und fruchtbare Zusammenarbeit begann, der Namensgeber für diese Zeitschrift. Ottmar fährt uns zu einem inzwischen recht verfallenen alten Dorf, das einst den deutschen Namen Rohleder trug. Auf dem Friedhof gehen wir auf Spurensuche und finden deutsche Namen. Fuchs, Braun, Ruder.
Zu Gast bei Tante Beate
Noch näher kommen wir der Geschichte der Russlanddeutschen, als wir am nächsten Tag zu Tante Beate fahren. "Da ist mein Sohn", sagt sie zu Ottmar und schließt ihn in ihre Arme. 88 Jahre alt, nicht mehr gut auf den Beinen, aber fit im Kopf. Wir essen, und Tante Beate erzählt. Dabei vergessen wir das Essen irgendwann. So viele Erlebnisse können doch nicht in ein Leben passen? So viel Vertreibung, Ortswechsel, Leid, Tod, aber auch lustige Anekdoten. Das Leben hat Tante Beate von Odessa in der Stalin-, Kriegs- und Sowjetzeit über Polen, Brandenburg, Sibirien und Tadschikistan in dieses Dorf bei Marx gebracht. Sie sagt Worte wie "Spätjahr" für Herbst und stimmt irgendwann "Schön ist die Jugend" an. Neben ihrem Sofa liegen Gebetsbüchlein, die sie einst selbst aus alten deutschen Heften abgeschrieben hat.
Kühe. In Stepnoje, zu Deutsch "Siedlung Steppe" - laufen sie während des Gottesdienstes am Sonntagnachmittag gemächlich am Kirchenfenster vorbei. Mehr als 30 Tiere haben hier im vergangenen Jahr im Rahmen des Kuh-Projektes neue Besitzer gefunden. Nach der Messe in der kleinen hölzernen Dorfkirche besuchen wir zwei Familien, die ebenfalls für eine Kuh vorgeschlagen worden sind. Ottmar begutachtet die geplante Unterbringung und spricht mit den Bewerbern. In einem Dorf wie Stepnoje, 50 Kilometer von Marx entfernt, ein paar hundert Einwohner groß, kaum Arbeitsplätze vorhanden, leben die Menschen vor allem von dem, was sie selbst erwirtschaften. Eine Kuh kann hier das Überleben sichern.
Tägliche Herausforderungen
Die zwei Übernachtungen in Marx sind so etwas wie ein kurzer Ruhepunkt unserer Reise, auch wenn wir hier ebenso viel auf den Beinen und unterwegs sind wie anderswo. Doch hier im kleinen Ensemble aus Kirche, Pfarrhaus, Wohnheim, Kloster und Haus der Stille fühlt sich das katholische Leben bereits verfestigt und gesetzt an. Über die täglichen Herausforderungen für Glaube und Caritas-Arbeit darf das nicht hinwegtäuschen. Das merken wir, als wir mit den Mitarbeitern der Hauskrankenpflege sprechen, das Kinderzentrum besuchen und den Eucharistieschwestern zuhören, die für viele Menschen in Not erster Anlaufpunkt sind.
Der Austausch über den Ist-Zustand und die Pläne der Caritas-Arbeit ist vielen unserer Gesprächspartner ein großes Anliegen. Sie möchten erzählen, suchen Rat und freuen sich über die Wertschätzung ihrer Tätigkeit, die häufig unter schwierigen Rahmenbedingungen geschieht. Das wird auch beim Treffen mit Oksana, der Leiterin des Diözesancaritasverbandes im Bistum St. Clemens, in Saratow deutlich. Sie ist für ein Bistum zuständig, das so groß ist wie Deutschland, Frankreich, Spanien und Portugal zusammen. Solche Dimensionen sind für mich nur schwer vorstellbar.
Kehrseiten in Kasan
Die zweite Nacht im Zug, der uns in 13 Stunden die knapp 900 Kilometer von Saratow nach Kasan bringt, ist ähnlich gemütlich wie die erste. Monotones Rattern, Tee am Morgen, draußen tauchen auf der bisher eher baumlosen Steppe nun auch mal ein paar kleine Wäldchen auf. Kasan schließlich trifft uns mit voller Wucht. Das hier ist ein anderes Russland. Modern, international, voll blinkender Lichter; hier sitzt Geld, das ist spürbar. Das Stadion für die Fußball-WM im Sommer mutet futuristisch an.
Die Kehrseite hören wir im Gespräch mit Schwester Anima in der katholischen Kirchengemeinde. Auch in Kasan werden viele niedere Arbeiten nur schlecht bezahlt. Sie berichtet von Studenten vor allem aus Afrika, die es kaum schaffen, ihre kleine Kasse aufzubessern, um in dieser glitzernden Stadt leben zu können. Einer von ihnen, Maxwell aus Ghana, hat heute Geburtstag, 23 Jahre wird er alt. Erst einmal dient er als Ministrant in der Messe, danach gibt es eine kleine Feier im Gemeinschaftsraum mit Kuchen und Tee. Die jungen Leute aus Ghana, dem Tschad, Benin, Kolumbien und Indien singen Geburtstagslieder in verschiedenen Sprachen. Eine andere Welt, aber auch das ist Russland. Und ja, auch das ist katholische Kirche in Russland.
Wie war die Reise?
Und irgendwann sitze ich dann in dieser Kirchenbank, lausche der Orgel und überlege, was ich sagen werde, wenn mich jemand fragt, wie meine Reise nach Russland war. Ich werde dann sagen, dass ich ein paar Worte Russisch gelernt habe und ein paar kyrillische Buchstaben lesen kann. Ich werde die Orte aufzählen, an denen ich war - Wolgograd, Elista, Astrachan, Marx, Saratow, Kasan. Ich werde die zurückgelegten Kilometer erwähnen (2500), die beiden Nächte im Zug und die Kirchen, Tempel und Moscheen, die ich besucht habe.
Aber das "wie" zu beantworten, das wird mir schwerfallen. Ich könnte wahrheitsgemäß "gut" sagen, aber das griffe zu kurz. Ich könnte sagen: bewegend, herausfordernd, atemberaubend, anspruchsvoll, nachdenklich stimmend, fröhlich, traurig, herzlich, unvergesslich. Ja, das wäre vielleicht die kurze Version für eine Antwort. Die lange haben Sie gerade gelesen.