Projektreise nach Russland: Besuch bei Menschen in Not in Sibirien
Nach 14 langen Monaten machte ich mich wieder auf den Weg nach Russland. Ende Januar 2022 war ich das letzte Mal dort und zwar zum Zwischenseminar in Dedowsk nahe Moskau mit unseren fünf Russlandfreiwilligen des Bistums Osnabrück.
Damals konnte keiner von uns ahnen, dass unsere Freiwilligen wegen eines Kriegsausbruchs bereits einen Monat später abrupt ihren Dienst beenden und vorzeitig nach Deutschland zurückkehren mussten.
Und nun, Ende März 2023 sitze ich wieder im Flugzeug. Meine Reiseziele sind Almaty, im Süden Kasachstans, Sibirien (Novosibirsk, Kuibyschew und Omsk), Astana, die Hauptstadt Kasachstans und schließlich das benachbarte Karaganda.
Im zurückliegenden Jahr hatte ich mehrfach überlegt, unsere Partner in Russland zu besuchen. Viele Einladungen habe ich erhalten. Soll ich sagen, ich habe mich lange nicht getraut, hatte zu großen Respekt vor einer Reise in ein Land das Krieg führt? Ja und nein. Viel größer als bei mir war die Skepsis meines Umfelds. Viele Personen zweifelten an, dass es die richtige Zeit sei, nach Russland zu reisen. Und als ich Ende letzten Jahres meine Entscheidung gefällt hatte, kamen auch Sorgen dazu, ob alles sicher sei und ich nicht gefährdet sei auf meiner Reise.
Erstes Reiseziel Konaev
Ich fliege über Nacht direkt von Frankfurt nach Almaty. Dort werde ich in aller Frühe von Pater Artur mit dem Auto abgeholt. Die nächsten Tage verbringe ich in seiner katholischen Kirchengemeinde in Konaev, etwa 60 Kilometer von Almaty entfernt. Ich nutze die Tage um mir ein Bild zu machen, ob wir hier ab Sommer 2024 zwei Freiwillige in den drei Waisenhäusern und dem Mutter-Kind-Haus der Gemeinde einsetzten können. Die sozialen Häuser der Gemeinde beherbergen 50 Waisenkinder und vier Frauen mit ihren Kindern. Freiwillige aus Osnabrück werden hier gern gesehen und könnten Pfarrer Artur, den vier Ordensschwestern und den Mitarbeitern gut zur Seite stehen.
Auf nach Sibirien
Am 16.03. bringt mich Pater Artur morgens zum Flughafen Almaty. Von dort fliege ich in den Norden Kasachstans, nach Petropawlowsk. Hier steige ich am frühen Nachmittag in den Zug nach Novosibirsk. Kurz vor Abfahrt des Zuges überrascht mich Tatjana, die Übersetzerin der Caritas Sibirien, die unerwartet neben mir steht und mich fortan auf meinen Stationen in Novosibirsk und Omsk begleiten wird. Mein Bauchkribbeln vor der kasachisch-russischen Grenzkontrolle heute Abend im Zug ist plötzlich verflogen. Ich muss zugeben, schon etwas nervös gewesen zu sein. Sowohl auf der kasachischen als auch auf der russischen Seite sind die Grenzbeamten zuvorkommend. Sie nehmen ihre Aufgabe ernst und streng wahr, fragen nach dem Grund meiner Reise, scannen meinen Pass in ihr mobiles Gerät ein und stempeln ihn. Mit einem "gute Reise" ziehen sie dann auch schon weiter ins nächste Abteil. Ich bin erleichtert und sende eine SMS nach Hause, wo meine Frau schon auf meine Nachricht wartet. Freitag, den 17.03. um 03:51 Uhr Ortszeit rollen wir im Novosibirsker Bahnhof ein. Eine Stunde später erreichen wir die Caritas und bekommen noch eine Mütze voll Schlaf, bevor es dann um 10 Uhr in den vollen Tag hineingeht. Nach dem Frühstück treffen wir uns zunächst mit den Mitarbeiterinnen der Caritas Sibirien, ihrer Direktorin Schwester Daria und ihrer Stellvertreterin Natalia. 2019 war ich das letzte Mal hier. In unseren Gesprächen stellt sich heraus, wie schwierig und kompliziert die soziale Lage der Bevölkerung in Russland ist. Der Staat versucht auf die schwere Situation der Menschen zu reagieren, in dem er viel Geld in die materielle Stabilität vor allem von Familien und Rentnern steckt und zwar im Bereich des Existenzminimums. Doch damit lässt sich bei Weitem die hohe Inflationsquote und die immense Teuerungsrate der letzten Monate nicht auffangen. Damit werden die Ärmsten noch ärmer und die Menschen, die sich bislang noch haben über Wasser halten können, sind in die Armut abgerutscht. Es braucht viel Kraftanstrengung für die Caritas Sibirien, sich mit ihrer Arbeit den Herausforderungen zu stellen.
Wir gehen rüber ins benachbarte Haus, in dem im Keller eines der beiden Kinderzentren untergebracht ist. In der Suppenküche für Bedürftige im Erdgeschoss nehmen wir mit vielen anderen Menschen unser Mittagessen ein. In der 1. Etage treffen wir im Mutter-Kind-Zentrum St. Sophia Mütter, die hier mit ihren Kindern Zuflucht erhalten haben. Die Mütter waren mit ihren Kindern bislang im Erdgeschoss und im 1. Stock des Hauses untergebracht. Nun rücken sie im 1. Stock etwas zusammen, um den Großteil des Erdgeschosses für ein kleines Altenwohnheim mit bis zu acht Plätzen freizumachen. Wichtig ist Schwester Daria und Natalia dabei, dass sie neue Projekt mit möglichst viel Eigenmitteln betreiben werden können. Im Herbst dieses Jahres sollen die ersten Bewohner möglicherweise schon einziehen können.
Den weiteren Nachmittag verbringen wir im Kinderzentrum Narnia. Dieses Kinderzentrum, das im Gemeindehaus der nahegelegenen katholischen Gemeinde liegt, platzt mal wieder aus allen Nähten. In den kleinen Räumen versammeln sich täglich 30 Kinder und mehr mit ihren beiden Erzieherinnen. Die meisten Kinder sind aus Familien, die aus Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan emigriert sind und deren Eltern sich hier in Sibirien Arbeit und einen besseren Lebensstandard als zuhause erhoffen.
Viele der Kinder kommen zu Beginn fast ohne Russischkenntnisse ins Narnia und lernen hier schnell, um ihrer Schulpflicht zu genügen und dem Unterricht folgen zu können. Die Wohnsituation der Familien ist oft so katastrophal, dass es ein Segen für die Familien ist, ihre Kinder tagsüber im Kinderzentrum unterzubringen. Den Abend verbringen wir zusammen mit der schon 30 Jahre in Novosibirsk lebenden Elisabethschwester Alexandra, die gebürtig aus Halle an der Saale stammt
Das Wochenende verbringe ich in der katholischen Kirchengemeinde in Kuibyschew. Die kleine Stadt liegt auf dem halben Wege zwischen Novosibirsk und Omsk. Dort leitet seit vielen Jahren der deutsche Pfarrer Dietmar Seiffert die Gemeinde. Wir sind ein Jahrgang und verstehen uns sehr gut. Unsere Zeit ist mit langen und tiefen Gesprächen gefüllt. In den Gottesdiensten, dem Rosenkranzgebet und dem Kreuzweg sowie einem Treffen zum Friedensgespräch bin ich mit den Gemeindemitgliedern verbunden. In Novosibirsk traf ich auf eine Caritasmitarbeiterin, deren Sohn an der Front in der Ukraine ist, hier in Kuibyschew ist es eine Mutter, die voller Sorge und Ohnmacht darüber spricht und ihre ganze Hoffnung in ihre Gebete vor Gott trägt. Die ganz persönliche Trauer und Not passen so gar nicht in die patriotische Stimmung, die öffentlich aller Orts verbreitet wird. Es sind die riesigen Plakate die überall hängen und auf denen rechts die bekannten Slogans wie "Die Ukraine ist unsere", "Wir kämpfen für den glorreichen Sieg" oder "Für die Verteidigung unseres Vaterlandes" zu lesen sind. Für meinen "deutschen" Kopf wirkt dies sehr beklemmend. Für die Menschen in Russland ist dies nur ein kleinerer Teil der Propaganda, die täglich auf sie einprasselt, im Radio, im Fernsehen, im Internet, in der Zeitung, ja im ganzen Alltag. Dennoch meine ich eine Zweiteilung festzustellen, die Realität, die in der Öffentlichkeit dargestellt wird und die jedem vorgaukeln soll, der Staat hat alles im Griff und "wir sind die Guten" und der geschützte private, familiäre Raum, in dem es noch möglich zu sein scheint, seine wahren Gefühle und Gedanken zeigen und ausdrücken zu können. Doch auch dieser Raum scheint gefährdet, wie das Beispiel eines Vaters eines Grundschulkindes zeigt, der für ein Friedensbild der Tochter, das sie in der Schule gemalt hatte, zu zwei Jahren Strafgefangenenlager verurteilt wurde, während die Tochter in ein Kinderheim eingewiesen wurde, wie die Presse vor Kurzem berichtete.
Obdachlos in Russland
Mein letzter Aufenthaltstag in Sibirien ist Montag, der 20.03.2023 in Omsk. Swetlana, die neue Direktorin der Caritas Omsk hat für mich einen gefüllten Tag vorbereitet. Gemeinsam mit ihrer Vorgängerin Tatiana besuchen wir am Vormittag die Kuh-Familie Vedenin im Gebiet Omsk. Weiter geht es nach dem Mittagessen zur Essensausgabe für die Obdachlosen an der Rückseite des Bahnhofs. Es liegt immer noch Schnee, die Temperaturen liegen bei etwa -7°C. Den Gesichtern in der langen Warteschlange für Suppe, Brot, Wurst und Tee sehe ich den langen Winter an, mit dem die Menschen auf der Straße im letzten halben Jahr seit Oktober und dem Dauerfrost mit Temperaturen bis -40°C zu kämpfen haben. Ich gehe auch zu Schwester Michaela in den Caritas-Bulli, in dem es eine Kabine für medizinische Notfallbehandlungen und eine kleine Kleiderecke gibt. Dort komme ich auch mit Olga ins Gespräch, die seit vier Jahren auf der Straße lebt, nachdem sie ihre Wohnung verloren hatte. Der vergangene Winter war so hart, dass ihre Zehen erfroren sind und Schwester Michaela sie behandelt, damit sie nicht als Folge der Erfrierungen ihre Zehen verliert und amputieren lassen muss. Voll Freude berichtet sie mir, dass sie und ihr Lebensbegleiter, den sie auf der Straße kennengelernt hat, ein kleines Zimmer in Aussicht haben, in dem die beiden in einigen Wochen unterkommen können, um endlich das Leben auf der Straße wieder beenden zu können. Das Leben der Obdachlosen in Sibirien ist so hart. Jedes Mal wenn ich unsere Caritasprojekte besuche, kann ich mir kaum vorstellen, wie die Menschen den strengen Winter dort überhaupt überleben können, wenn sie kein Dach über dem Kopf haben.
Zurück in der Caritas besuche ich noch die anderen Projekte im Haus. Zuerst geht es ins Kinderzentrum, wo uns die Kinder und ihre Erzieherinnen schon erwarten. Auch bei der psychologischen Familienberatungsstelle, der Lebensmittelausgabe und der Suppenküche für Bedürftige schaue ich vorbei und schließlich auch in der Kleiderkammer und der Hauskrankenpflegestation. Direktorin Swetlana erklärt noch, alle Projekte seien stark ausgelastet und ihre gesamte Mitarbeiterschaft herausgefordert und dabei sehr motiviert, ihre Arbeit zu schaffen und für die Menschen in Not da zu sein. Als ich nach unserem gemeinsamen Abendbrot um kurz nach 22 Uhr mit Tatiana im Nachtzug von Omsk nach Astana sitze, liegen ein ereignisreicher Tag und volle vier dichte Tage Sibirien hinter uns. Der Grenzübertritt von Russland nach Kasachstan ist in der Nacht genauso unspektakulär wie auf der Hinfahrt.
Es folgt in Astana, der Hauptstadt Kasachstans noch eine Konferenz der katholischen
Bischöfe. Russlands und des Direktors des Caritas Russland und mit uns ausländischen Partnerorganisationen. Aus Deutschland sind neben der Caritas Osnabrück noch Caritas international, Renovabis und Kirche in Not vertreten, außerdem sind Vertreter der amerikanischen Bischofskonferenz gekommen. Zwei Tage tauschen wir uns intensiv über die Lage der katholischen Kirche und ihrer Caritas in Russland aus. Alle Partner haben am Ende der russischen Seite gegenüber erklärt, auch künftig weiterhin solidarisch an ihrer Seite zu stehen und sie nach allen Kräften zu unterstützen. Es ist ein wichtiges Zeichen in einer besonders belasteten Situation.
Das Wochenende am Ende meiner 15 Tage verbringe ich mit einem Teil der Konferenzteilnehmer in Karaganda. Es ist eine Art Wallfahrt in eine Stadt, die keine 100 Jahre alt ist. Die Erschließung der Kohlevorkommen und die große sowjetische Zwangsarbeitslager prägte die Stadt bis in die 1950er Jahre. Viele der Häftlinge waren Russlanddeutsche. Bereits in den 1960er Jahren bemühten sich die Katholiken, viele davon Russlanddeutsche, Polen und Litauer, um die Anerkennung einer Gemeinde, die ihnen erst 1974 gewährt wurde. Die erste katholische Kirche in der nachstalinistischen Zeit wurde hier 1980 in Karaganda fertiggestellt und geweiht. Gemeinsam mit Bischof Clemens Pickel (Saratow) und Bischof Joseph Werth (Novosibirsk), der selber als Russlanddeutscher aus Karaganda stammt und der 1980 als junger Priester seine Primizmesse in der Kirche in Karaganda feiern konnte, haben wir gemeinsam mit der Kirchengemeinde einen berührenden Gottesdienst gefeiert.
Die einzige Reiseturbulenz gab es durch den umfassenden Streiktag in Deutschland bei meiner Rückreise am 27.3. Statt des Direktfluges von Astana nach Frankfurt, musste ich über Istanbul nach Amsterdam umbuchen und mich von meiner Frau schließlich auf holländischer Seite vom Bahnhof in Hengelo mit dem Auto abholen lassen, um nach Hause zu kommen.