„Ich weiß jetzt selbst, was ich brauche!“
Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) setzt neue Maßstäbe für das Gesamtplanverfahren. In den §§ 117 ff SGB IX ist klar formuliert: Die Leistungsberechtigten müssen in allen Verfahrensschritten beteiligt werden, die Berücksichtigung ihrer Wünsche und Ziele wie auch die Orientierung an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (kurz: ICF) sind verbindlich vorgeschriebene. Daraus können erhöhte Beteiligungsmöglichkeiten entstehen.
Verwaltungssprache behindert Teilhabe
Allerdings steigt durch das anspruchsvolle Verfahren auch die Gefahr, dass es Leistungsberechtigten nicht gelingt, ihre Bedarfe erfolgreich zu artikulieren und zu vertreten. Denn nur noch konkrete festgestellte Bedarfe münden auch in einen entsprechenden Leistungsbescheid. In unserem Bundesland soll das sogenannte Bedarfsermittlungsinstrument Niedersachsen, kurz B.E.Ni, sicherstellen, dass das gelingt. Entwickelt hat B.E.Ni eine vom Landesamt für Soziales, Jugend und Familie beauftragte Arbeitsgruppe; das Instrument ist seit dem 1. Januar 2018 verbindlich im Einsatz.
Die Formulare und Begleittexte zu B.E.Ni - in anderen Bundesländern ist das ähnlich - sind jedoch in schwer verständlicher Sprache formuliert. Aus Verwaltungssicht ist das nachvollziehbar, denn präzise Formulierungen gewährleisten eine hohe Rechtssicherheit im Falle strittiger Entscheidungen. Schwer verständliche Sprache und komplexe Verfahrenswege führen in vielen Fällen allerdings zwangsläufig zu einer Bedarfsermittlung durch Dritte. Das konterkariert das gesetzlich verankerte Mitbestimmungsrecht sowie die angestrebte Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung.
Eigenständige Bedarfsermittlung ermöglichen
Die Caritas in Niedersachsen will das nicht hinnehmen. Sie hat deshalb gemeinsam mit der Lebenshilfe Landesverband Niedersachsen e.V. sowie Prof. Dr. Bettina Lindmeier und ihrem Team vom Institut für Sonderpädagogik der Philosophischen Fakultät an der Leibniz Universität Hannover ein Projekt zur gezielten Vorbereitung Betroffener auf B.E.Ni organisiert. Das Projekt unter dem Titel "Ich weiß jetzt selbst, was ich brauche!" wird von Aktion Mensch gefördert und hat folgende Ziele:
- Besseres Verständnis für die Inhalte der Bedarfsermittlung bei Leistungsberechtigten, ihren "Personen des Vertrauens" sowie ihren gesetzlichen Vertretungen. Dazu zählen die Analyse der eigene Lebens- und Alltagssituationen sowie die Kenntnis der daraus entstehenden Bedarfe. Es geht auch um die Fähigkeit, individuell vorhandenen Barrieren und Förderfaktoren benennen zu können, sowie um die Fähigkeit, sich dazu - gegebenenfalls mit Hilfsmitteln - mitteilen zu können.
- Befähigung zur politisch gewollten Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung (vgl. § 1 SGB IX) geschieht auch durch die partizipative Entwicklung von Materialien für die genannten Aufgaben. Menschen mit Behinderung arbeiten also daran mit, Material für die Vorbereitung auf ein B.E.Ni-Verfahren zu entwerfen und zu entwickeln.
Zielgruppe sind diejenigen Menschen mit Beeinträchtigungen, die sich auf die eigene Bedarfsermittlung vorbereiten wollen. Im Mittelpunkt stehen Menschen, die von übersichtlich gestaltetem, leicht lesbarem Material profitieren und die aufgrund benachteiligender Bildungsbiografien und Lebensbedingungen Unterstützung benötigen, um in einem Bedarfsermittlungsverfahren "sprechfähig" zu sein. Nur so können auch sie die Leistungen zugesprochen bekommen, die sie für die Teilhabe an der Gesellschaft und ein selbstbestimmtes Leben benötigen. Weiterhin sollen auch die Angehörigen, Personen des Vertrauens und die rechtlichen Betreuer*innen, die unterstützend oder stellvertretend am Verfahren teilnehmen, von den Ergebnissen profitieren und die Materialien nutzen können.
Das Projekt läuft noch bis Februar 2020. Dann werden die Materialien vorliegen und über die Homepages der beteiligten Verbände zum Download veröffentlicht.