Predigt von Diakon Dr. Gerrit Schulte am 5. April 2019
Liebe Mitfeiernde im heutigen Caritas Gottesdienst am Herz-Jesu Freitag,
am 30.März 2019 hat unser Caritaspräsident Peter Neher ein längeres Interview der Neuen Osnabrücker Zeitung gegeben (https://bit.ly/2COgN3j) . Vieles davon konnte ich sehr gut nachvollziehen. Ich bin wie er auch kein Freund des Gießkannenprinzips von staatlichen Transferleistungen und Freibeträgen und manchem anderen. Ich glaube wie Peter Neher, dass man bei der Armutsbekämpfung, bei Fragen der Bildung, bei der Frage der Wohnungsnot immer die wirklich Bedürftigen in den Blick nehmen muss. Dazu bedarf es einer genauen Analyse der Situation. Wir müssen genau hinschauen. Wenn man sich als Kirche und Caritas dann öffentlich äußert - wie in der Armutsdebatte - muss man in der Sache auch argumentationssicher sein, und auch Vorschläge anbieten können, wie Probleme zu lösen sind. Neher hat das in die Worte gefasst: "Wo sind Verantwortlichkeiten? Wo macht es Sinn, steuerlich gezielt einzugreifen? Wo können wir Maßnahmen ergreifen, um gezielt von Armut Betroffenen zu helfen? Wichtig ist, sich differenziert mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Stattdessen wird viel skandalisiert. Ich ärgere mich über jede Empörungsrhetorik, denn sie vermittelt ein falsches Bild und verstellt den Blick auf das, was wirklich nötig ist."
Ich halte das für eine wirklich gute Beschreibung unserer fachlichen Arbeit in der Caritas. Das Wort Nehers von der Skandalisierung und Empörungsrhetorik geht dabei nicht so sehr in Richtung derer, die sich um die Bedürftigen kümmern, also die Caritas, sondern eher in Richtung der Politik, der Parteien, der Medien, vielleicht auch gegen manche Auftritte von Protagonisten der Wohlfahrt in den großen Talkshows, die zu schwarz-weiß gestrickt sind.
Die NOZ hat aber die Brisanz dieser Sätze sofort begriffen und daraus die Überschrift gemacht. Wörtlich prangte nun in fetten Lettern über der ganzen Seite der Satz: "Ich ärgere mich über jede Empörungsrhetorik!" Eine solche Schlagzeile hat eine große Macht und Wirkung.
Deswegen spreche ich hier auch dazu. Denn dieser Satz kann uns auch auf regionaler und kommunaler Ebene wieder vor die Füße geworfen werden, wenn wir uns öffentlich für die wirklich Bedürftigen, für Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich und Teilhabe stark machen und einsetzen. Wenn wir gemeinsam mit den Betroffenen und auch anwaltschaftlich für die Betroffenen öffentlich agieren.
Für mich hat "Empörung" zunächst gar keinen negativen Beigeschmack. Sie hat sogar etwas Biblisches. Wir haben es eben in der Lesung aus dem Buch Exodus gehört. Da heißt es:
"Der Herr sprach: Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen, und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen." (Ex 3,7-8a)
Und im Buch des Propheten Hosea heißt es: "So spricht der Herr: Wie könnte ich dich preisgeben, Éfraim, wie dich aufgeben, Israel? Mein Herz wendet sich gegen mich, mein Mitleid lodert auf. Ich will meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken und Éfraim nicht noch einmal vernichten. Denn ich bin Gott, nicht ein Mensch, der Heilige in deiner Mitte. Darum komme ich nicht in der Hitze des Zorns." (Hosea 11,8-9)
Liebe Christen, unser Gott ist ein empathischer Gott; ein Gott, der mitleidet, der zornig wird angesichts von Verrat, Elend und Leid, der die Klagen hört, die Not sieht, die Schuldigen benennt und dann vom hohen Sockel herunterkommt und handelt, befreit. Ein Gott, der sich empört, der vor Leidenschaft für den Menschen brennt, aber nichts in Schutt und Asche legt - wie der Dornbusch brennt aber nicht verbrennt.
Diese prophetische Macht des Wortes, diese prophetische Anklage gegenüber Unrecht und Leid, wie wir sie auch bei Jesaja, bei Amos und vielen anderen Propheten finden, dieses gesellschaftskritische Korrektiv der prophetischen Empörung - all das gehört zu unserem christlich-jüdischen Selbstverständnis. Dieses Wort ist in Jesus Christus Fleisch geworden. So sehr, dass Papst Benedikt in seiner Enzyklika "Deus caritas est" unter Berufung auf den 1. Johannesbrief schreiben kann: Wer sagt, dass er Gott liebt, aber blind ist für die Not des Nächsten, für den wird die Behauptung der Gottesliebe zur Lüge. Man kann Gott nicht am Nächsten, am Menschen vorbei lieben.
Das Korrektiv dieser prophetischen Empörung gehört also zu unserer DNA, wie der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer vielleicht positiv sagen würde. Lassen Sie mich das an ganz praktischen und realen Beispielen verdeutlichen:
Wenn sich Pfarrer Peter Kossen im Offizialat Oldenburg/Vechta nicht empört hätte über die rumänischen Werkvertragsarbeiter in der Fleischindustrie, über ihre Ausbeutung durch Arbeit, verwahrlosten Wohnraum und Mafia ähnliche Strukturen der Unterdrückung, dann würden sie doch heute noch als "Eimermenschen", wie sie genannt wurden, durch unsere ach so katholischen Dörfer ziehen.
Wenn die Osnabrücker Caritas nicht öffentlich der VONOVIA attestiert hätte, dass ihr Gebaren gegenüber ihren Mietern asozial ist, wäre die Empörung in Osnabrück vielleicht sehr schnell verflogen. So mussten nach umfangreicher Zeitungsberichterstattung der Konzern und seine Anwälte vor Gericht den Rückzug in außergerichtliche Einigungen suchen, was einer Rücknahme ihrer unanständigen Mieterhöhungen und Forderungen gleichkam.
Wenn Papst Franziskus nicht auf der Insel Lampedusa mit einem Gottesdienst in einem gekenterten Flüchtlingsboot als erster den unglaublichen Skandal des Massensterbens im Mittelmeer thematisiert hätte, wären nicht so viele Menschen gerettet worden durch private und andere Seenotretter, auch durch Handelsschiffe, während die Gleichgültigkeit vieler europäischer Staaten bis heute aus einem politischen Kalkül heraus die Menschen ersaufen lässt.
Wenn nicht ein Pater Klaus Mertes am Canisius Kolleg in Berlin den Missbrauch skandalisiert hätte…,
wenn nicht die Frauen in der Redaktion des L’Osservatore Romano, der Zeitung des Papstes, den Missbrauch der Nonnen skandalisiert hätten…
Wenn nicht, dann… Ich könnte hier jetzt noch sehr viel mehr Beispiele bringen, die beginnen mit "wenn nicht"...
Deswegen bitte ich Sie und Euch: Lasst euch nicht verwirren! Empört euch, wo immer ihr die Not seht, die Schreie der Bedrängten hört, benennt die Ursachen und die Täter. In Anlehnung an den Propheten Hosea füge ich hinzu: Mit loderndem Herzen aber mit kühlem Kopf.
In diesem Sinne freue ich mich über jede Empörung.
Amen