Not sehen und handeln
Als ich im Sommer 1994 das erste Mal nach Russland flog, befand sich Russland mitten in einer schweren Wirtschaftskrise. Viele Menschen hatten in dieser Zeit kaum das Nötigste. Die Spätfolgen der Sowjetzeit, die Folgen der gescheiterten Gorbatschow-Ära und vor allem der chaotischen Jelzin-Zeit machten sich immer stärker bemerkbar. Wenige hatten viel zu viel, wirtschaftliche und vor allem politische Beziehungen brachten einer dünnen Oberschicht Macht und reichlich Geld für die eigene Tasche und den eigenen Clan. Auf der Strecke blieb der Großteil der Bevölkerung. Löhne wurden nicht oder nur teilweise in Materialien oder verspätet ausgezahlt. Rentner warteten Wochen oder Monate auf ihre Pension.
Russlanddeutsche, die damals in die Aussiedler-Beratungsstelle des Caritasverbandes Osnabrück kamen, in der ich arbeitete, berichteten, dass ihre noch in der Heimat lebenden Verwandten nicht wüssten, wie sie ihre Familien ernähren und mit dem Nötigsten versorgen sollten. Das war für unsere kleine Ehrenamtsgruppe, die sich um die russlanddeutschen Neubürger in Osnabrück kümmerte, das Signal aktiv zu werden und einen Hilfstransport mit Lebensmittelpaketen in Dörfer im Kaukasus zu organisieren. Wenn ich nur annähernd gewusst hätte, was sich unser kleiner Kreis von 1994 bis 1996 vor die Brust genommen hatte…
In diesen drei Jahren haben wir insgesamt drei Hilfstransporte mit sechs LKW-Ladungen voller Lebensmittelpakete, Kleidung und medizinischer Geräte durchgeführt. Wir mussten uns gegen viele bürokratische Widerstände auf Seiten des russischen Zolls und anderer administrativer Stellen vor Ort im Nordkaukasus durchsetzen.
Die Dankbarkeit und Freude der notleidenden Dorfbevölkerung war sehr groß. Jeder Dorfbewohner erhielt ein Lebensmittelpaket im Wert von gut 60 DM. Dies entsprach in etwa der damaligen Mindestrente bzw. einem halben Monatslohn vieler. Doch die Auflagen, die wir zu erfüllen hatten, um unsere Transporte durchzuführen, und nicht zuletzt das Entzollen vor Ort, das uns auch nach tagelangen Anstrengungen und stundenlanger Warterei in den Behörden die Verteilung unserer Güter fast unmöglich gemacht hat, führte dazu, dass sich unsere Ehrenamtstruppe schweren Herzens nach nur kurzer Zeit zum Beenden der Transporte entschließen musste.
1997 war dann ein Jahr der Pause unserer Russlandaktivitäten, bis im Juni 1998 der Osnabrücker Kirchenbote von der Ernennung des Priesters Clemens Pickel berichtete, der zum Weihbischof in Moskau ernannt wurde. Clemens Pickel, Priester des Bistums Dresden-Meißen, wurde 1988 zum Priester geweiht und ging nach seiner Kaplantätigkeit 1990 als Pfarrer nach Tadschikistan. Als Joseph Werth im Sommer 1991 in Moskau zum Bischof von Sibirien geweiht wurde, übernahm Clemens Pickel seine Pfarrei in Marx an der Wolga.
Unsere Ehrenamtsgruppe beschloss, nach dem Zeitungsartikel Kontakt zu Clemens Pickel aufzunehmen, um ihm eine Zusammenarbeit anzubieten. Mein Brief vom 24.6.1998 endete mit folgenden Zeilen:
Der Grund unserer Kontaktaufnahme zu Ihnen ist nun die Hoffnung, in Ihrem Bistum eine Kirchengemeinde zu finden, die als gleichwertiger Partner ein Interesse hat, mit uns Kontakt aufzunehmen und mit uns gemeinsam zu überlegen, ob ein Aufbau von Hilfsmaßnahmen wünschenswert ist. Dabei geht es uns vor allen Dingen darum, Art und Umfang unserer Kontakte und Hilfsangebote gemeinsam abzusprechen und eine partnerschaftliche Verbindung aufzubauen. Es ist uns daran gelegen, Kontakte zu knüpfen, die zum Ziel haben, eine Hilfe zur Selbsthilfe aufzubauen.
Der 24. Juni 1998 kann als Geburtstag der Russlandhilfe EINE KUH FÜR MARX gelten. Von diesem Zeitpunkt an waren wir in engem Kontakt mit Bischof Clemens Pickel und seiner Gemeinde. Aus diesem zarten Pflänzchen sollten in den nächsten Jahren viele Projekte auch weit über die Grenzen von Marx und dem Bistum St. Clemens hinaus entstehen.
Anfang November fuhr ich zusammen mit Georg Watell und Monika Roder, Mitglieder unserer Ehrenamtsgruppe, nach Marx.
Von diesem Zeitpunkt an begannen wir mit der Unterstützung der Menschen vor Ort. Oft habe ich durch Krankheit, Arbeitslosigkeit, Armut, Gewalt, Alkohol zerrüttete Familien und an den Rand gedrängte Menschen gesehen. Russland wird oft unter dem Stereotyp einer verrohten, verfallenen und ausgemergelten Gesellschaft gesehen, dessen zweites Gesicht die neureichen und protzigen Russen sind. Meist wirken die gezeichneten Bilder düster und abschreckend. Russland ist deshalb oft mit negativen Schlagworten besetzt. Doch was liegt zwischen bettelarm und steinreich? Das sind die Menschen, die täglich ihren Alltag meistern und versuchen, dem Elend zu entkommen, die erkannt haben, dass Russland so nicht weitermachen kann.
In diesem Spannungsfeld leben wir mit unserem Netzwerk der Caritas, um den Menschen aus bedrückender Armut zu helfen und zugleich darin zu unterstützen, eine zivilgesellschaftliche Entwicklung voranzubringen. Von der katholischen Kirche und der Caritas gehen Impulse aus. Privatpersonen, kooperierende Einrichtungen, Behörden nehmen diese Impulse auf. Die Menschen in den Brennpunkten wissen, dass ihre Lage nicht von heute auf morgen zu ändern ist. Sie brauchen Menschen, die ihre Not sehen, sich an ihrer Seite einfinden und bereit sind, mit ihnen die ersten Schritte zu gehen - ganz im Zeichen der Losung von Caritas Deutschland: Not sehen und handeln.