Und – hat Russland euch verändert?
Gut 18 Monate ist es her, dass wir das erste Mal russischen Boden betraten und damit tauchten wir ein in eine für uns neue Kultur, eine neue Denk- und Lebensweise. Von nun an galt es zu verstehen. Ein Freiwilligendienst in Russland, ein Jahr bei der Caritas in Omsk bzw. in Novosibirsk, ein Abenteuer, welches uns auch noch ein halbes Jahr nach unserer Rückkehr nach Deutschland (ganz bewusst haben wir nicht das Wort "Heimkehr" gewählt), begleitet und prägt. Doch was hat das FDA mit uns gemacht? Wie hat es uns und unsere Einstellung verändert?
Den größeren Kulturschock hatten wir eigentlich, als wir wieder nach Deutschland kamen - so stark haben wir uns an die russische Lebensweise gewöhnt. Je länger wir hier sind, desto klarer wird uns, was wir alles vermissen: Natürlich sind da unsere Freunde, der sibirische Winter und unsere Arbeit, aber uns fehlt noch etwas anderes, etwas, was schwieriger zu fassen ist. Da sind die vielen Menschen die uns begegnet sind, mit unterschiedlichsten Geschichten und Schicksalsschlägen, die trotz der widrigen Lebensumstände eine Herzlichkeit und Wärme ausstrahlen, die uns tief beeindruckt.
Diese Begegnungen, die Arbeit bei der Caritas, durch die wir tagtäglich mit Menschen in Kontakt kamen, die am Rande der Gesellschaft und am Existenzminimum leben, der einfache Lebensstil…
Das alles mag wohl dazu geführt haben, dass wir nun unser Leben in Deutschland aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Mehr als einmal wurden wir in Russland gefragt, warum wir hier als Freiwillige arbeiten und wie wir uns das überhaupt leisten können. Uns wurde bewusst, wie privilegiert allein schon der Umstand ist, dass wir als junge Schulabsolventinnen die Möglichkeit haben in ein anderes Land zu fliegen, um dort einen Freiwilligendienst zu machen. "Gibt es in Deutschland eigentlich Obdachlose?", "Bei euch sind die Straßen nicht so kaputt, oder?", "Gibt es in Deutschland Kriminelle?". Anfangs versuchten wir noch, diese Fragen zu relativieren, schließlich ist in Deutschland ja auch nicht alles perfekt. Nein, bei uns gibt es auch viele Baustellen und Probleme…. Aber wenn uns jemand fragen würde, ob wir lieber im deutschen Sozialsystem oder im russischen leben würden, müssten wir nicht lange überlegen. Obdachlos zu sein ist überall auf der Welt schrecklich, aber in Deutschland gibt es zahlreiche Anlaufstellen, an die man sich wenden kann, ob staatliche, kirchliche oder NGO´s. Das ist in Russland schon schwieriger.
Doch wird das im Alltag wertgeschätzt? Wie oft erwischen wir uns dabei, uns über jegliche Kleinigkeit zu echauffieren? Natürlich ist es enorm wichtig, die Dinge kritisch zu betrachten, doch gleichzeitig vergessen wir oft, wie viel wir eigentlich schon haben. Es ist vor allem Dankbarkeit für unser Leben mit all den vielen Möglichkeiten, die offen vor uns liegen, und die wir mit ein wenig Mühe ergreifen können, die wir durch unser Jahr in Russland erhalten haben. Und auch die kleinen Freuden und Erfolge im Leben als groß anzusehen, haben wir gelernt.
Aus der Schule kommend und gerade das Abitur hinter uns gebracht, haben wir die meisten Jahre
unseres Lebens mehr oder weniger unter permanentem Leistungsdruck gestanden. Besser und schneller war oft die Devise. In unserem Jahr in Russland waren wir befreit von jeglichem Klausurendruck, "Verglichen werden" und Bewertungen. Uns wurde Zeit geschenkt und wir mussten es manchmal erst lernen, uns Zeit zu nehmen, die wir doch gelernt haben akribisch aufzuteilen, um möglichst effektiv zu sein. Sich für Menschen Zeit zu nehmen, in Ruhe einen Tee zu trinken, die Arbeit liegen zu lassen, auch wenn sie noch nicht vollendet ist, das ist gar nicht so einfach in unseren deutschen Alltag einzubauen.
Doch unser Lebensstil unterscheidet sich auch in anderen Dingen zu dem in unserem Freiwilligendienst. In Russland gibt es riesige Einkaufscenter, Läden, die wir aus Deutschland kennen, doch werden diese Center nicht von den Leuten besucht, denen wir nahestanden. Reichtum neben Armut und das Bewusstsein, dass uns der Reichtum viel näher ist und die Läden, bei denen die meisten, mit denen wir uns umgaben, nicht einkaufen konnten, uns viel vertrauter waren als die Babuschkas, die ihr Gemüse von der Datscha am Straßenrand verkauften oder Kleidungsläden, die mit chinesischer Billigware vollgestopft sind, und in denen ein beißender Geruch von Chemikalien in der Luft liegt. Diese Bilder lassen sich nicht mehr aus unseren Köpfen verbannen, wenn wir hier miterleben, wie der Joghurt weggeschmissen wird, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, oder wenn uns bunte Werbeplakate vom hiesigen Supermarkt verkünden, dass nirgends billiger eingekauft werden kann als bei ihnen. Wer sich keine teuren Produkte kaufen und bei dem ausufernden Konsum nicht mithalten kann, geht hier schnell unter. Kleiderschränke, die aus allen Nähten platzen, überquellende Schuhregale, riesige Zimmer und nie ist es genug. Der Gedanke daran, in was für einem Wohlstand und Überfluss wir in Deutschland leben, erfüllte uns manches Mal mit Scham. Uns wurde bewusst, wie wenig wir dieses Privileg bis jetzt zu schätzen wussten.
Also, wie hat uns das FDA verändert? Häufig wurde uns gesagt, dass wir ruhiger und gelassener geworden sind. Vielleicht stimmt es. Wir haben in unserem Jahr so viel menschliche Wärme, beispiellose Gastfreundschaft und Herzlichkeit erfahren, die wir niemals vergessen werden. Wir haben durch die Caritas Menschen kennengelernt, die ihr gesamtes Leben trotz widriger Umstände der christlichen Nächstenliebe verschrieben haben und diese Eindrücke bleiben, inspirieren, machen aufmerksam. Ein Freiwilligendienst im Ausland hinter-lässt Spuren, animiert zum Um-denken, zum kritischen Hinter-fragen und aktivem Engagement. Wir starteten unseren Dienst mit dem Gedanken, Gutes zu tun, zu helfen, haben aber sehr schnell gemerkt, dass auch uns geholfen wurde, wir zu Lernenden wurden. Kurzum, ja, Russland hat uns verändert und wir sind voller Dankbarkeit, dass uns diese Chance, mit einem anderen Blick die Dinge zu betrachten, gegeben wurde. СПАСИБО